Herr Höschler, Sie haben nicht nur Ihre Dissertation zum Thema „Displaced Persons“ in Bad Aibling geschrieben, sondern mittlerweile auch ein Buch über die Geschichte des IRO-Kinderdorfs herausgebracht. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Dr. Christian Höschler: Das war mehr oder weniger wirklich Zufall. Ich hatte an der Universität ein Seminar zum Thema „Displaced Persons“ besucht. Unabhängig davon habe ich in einem Buch von Dr. Gottfried Mayr zur Geschichte von Bad Aibling über das frühere Kriegsgefangenenlager in Mietraching gelesen. Auf der letzten Seite wurde in einem Nebensatz das IRO-Kinderdorf erwähnt. Ich wollte mehr darüber wissen, habe aber sehr schnell festgestellt, dass man in den Archiven hierzulande kaum etwas darüber findet. Da war meine Neugier geweckt.
Und das Thema für Ihre Dissertation stand somit fest?
Nein. Es war am Anfang einfach reines Interesse. Ich hätte nie gedacht, dass daraus ein Dissertationsprojekt entstehen würde. Von Historikern habe ich dann verschiedene Tipps bekommen, wo ich suchen könnte. Denn es gibt ja jede Menge Material. Aber das war in der ganzen Welt verstreut. Da stand bald fest, dass es viel Arbeit bedeuten würde, all den Informationen nachzugehen. So entschied ich mich dann letztlich für dieses Projekt.
Wie muss man sich diese Forschungsarbeit vorstellen?
Es war wie ein großes Puzzle, dessen viele Teile in den verschiedensten Archiven von der Schweiz über Frankreich und Irland bis in den USA, auf den Bermudas oder in Israel lagerten. Dorthin waren sie nach Auflösung des Kinderdorfes gelangt, als die Angestellten Deutschland wieder verließen. Das Lager lag ja damals außerhalb der deutschen Zuständigkeit. Interessanterweise gab es sehr viel Material auch bei den Quäkern in Philadelphia.
Sie haben in zahlreichen Archiven nachgeforscht. Vieles befand sich aber auch in privater Hand?
Ja. Ich konnte Nachkommen früherer Angestellter ausfindig machen. In der Folge kam es oft auch zu Dachbodenfunden. Das waren wahre Schatztruhen, in denen sich Fotos, Tagebücher, Briefe und Berichte befanden. Sogar eine Filmaufnahme in Farbe und Exemplare der damaligen Lagerzeitung waren dabei.
Haben Sie alles vor Ort in den jeweiligen Ländern recherchiert?
Vieles ging natürlich via Internet. Aber immer dann, wenn es um sich um große Mengen an Material handelte, das es zu sichten galt, bin ich selbst dorthin gereist.
Was im Falle der Bermudas wahrscheinlich auch ein besonderes Vergnügen war?
Nein, in diesem Fall hat sich leider keine Reise ergeben. Dort lebte eine frühere Mitarbeiterin des Kinderdorfs, die einen ganzen Stahlschrank voller Unterlagen hatte. Diese hat ihr Sohn dann eingescannt und mir zugeschickt. In einem anderen Fall hatte ich Kontakt zu dem Sohn des ehemaligen Direktors des Kinderdorfs, der in der Schweiz lebt und eine Riesentruhe voller Material hatte. Wie es der Zufall wollte, hatten er und seine Frau gerade vor, in ihre Ferienwohnung in Ruhpolding zu fahren. Er hat die Truhe einfach eingepackt und mitgebracht.
Gelang es Ihnen auch, mit Zeitzeugen in Kontakt zu treten?
Ja, ich habe mit einem guten Dutzend Kindern von damals gesprochen, die größtenteils in den USA leben. Wenn man sich mit ihnen unterhält, bekommt man natürlich noch einmal einen anderen Eindruck als nur durch das Sichten von Dokumenten. Im Übrigen hat sich auf den seinerzeitigen Aufruf im Mangfall-Boten auch eine Dame aus Bad Aibling bei mir gemeldet, die einst in dem Kinderdorf gewohnt hat.
Was würden Sie sagen: Wie haben die Kinder von damals die Zeit in Bad Aibling in Erinnerung?
Die meisten erinnern sich sehr positiv an diese Zeit. Sie hatten zum Teil furchtbare Schicksale hinter sich, haben die KZ-Gräuel miterlebt, mussten hungern oder waren entführt und in SS-Familien untergebracht worden. In dem Kinderdorf wurden sie gut betreut, durften spielen, hatten zu essen, lernten Englisch. Dieser Kontrast rückte vieles in ein positives Licht. Dort gab es ja ein eigenes Krankenhaus, Schulen, Ausbildungsstätten und ein Freizeitprogramm. Das Kinderdorf war ziemlich autonom. Vielfach war es jedenfalls sicher so, dass in dieser Einrichtung die Grundlagen dafür geschaffen wurden, dass die Kinder ein gutes Leben entwickeln konnten.
Zu Kontakten mit der Aiblinger Bevölkerung kam es aber kaum?
Das war eher nicht der Fall. Und ist wohl auch der Grund, weshalb man hier so wenig über die Einrichtung weiß. In einigen Fällen gab es aber doch Kontakte. So besagt ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1950, dass Vertreter der Stadt das Kinderdorf besucht haben.
Die Erlöse aus Ihrem Buch spenden Sie an UNICEF. Was ist der Grund dafür?
Es mag abgedroschen klingen, aber aus der Geschichte sollten wir lernen. Durch das Spenden der Bucherlöse versuche ich hier eine entsprechende Brücke zu schlagen, denn auch heute befinden sich Millionen von Kindern weltweit außerhalb ihrer Heimat. Viele übrigens auch unbegleitet, auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung. Das ist – entgegen so manchem Populismus – durchaus vergleichbar mit der Situation der DP-Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg.
Bislang gibt es das Buch nur in englischer Sprache. Wird es auch einmal eine deutsche Ausgabe geben?
Ja, das ist geplant. Ich hoffe, im Lauf der nächsten zwei Jahre damit fertig zu werden. Interview Eva Lagler