Die Weltwirtschaft steht durch Brexit und Handelskriege vor neuen Herausforderungen. Deutschland muss um seine starke Rolle fürchten. Doch wohin geht die Reise auf lange Sicht? Und wie sollen Menschen als Anleger damit umgehen? Wir sprachen mit Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka Bank.
Es gibt wieder Handelskriege, der Brexit kommt, der Ost-West-Konflikt ist wieder aufgeflammt. Müssen wir damit leben, dass die Risiken auch wirtschaftlicher Art im nächsten Jahrzehnt zunehmen?
Ja, geopolitische Einflüsse auf die Wirtschaft sind stärker geworden. Das wird sich so auch weiter fortsetzen. Äußerungen aus dem Weißen Haus und aus China haben die Märkte in diesem Jahr sehr beeinflusst. Das ist Ausdruck der veränderten wirtschaftlichen Weltlage. Wir nehmen langsam Abschied von vielen Jahrzehnten der offenen Kooperation. Es ist wieder Misstrauen eingezogen. Und wo Vertrauen fehlt, kann der Handel nicht prosperieren.
Wie kann man als deutsche Volkswirtschaft, die auf internationale Zusammenarbeit wie keine andere angewiesen ist, darauf reagieren?
Die Unternehmen reagieren schon. Und zwar auf die deutliche Abschwächung der Nachfrage nach ihren Produkten. Diese weltweite Nachfrage betrifft die Industrie, die etwa ein Viertel unserer Wirtschaft ausmacht. Drei Viertel der Wirtschaft sind glücklicherweise weniger betroffen, sodass nicht die ganze Volkswirtschaft in die Rezession gefallen ist. Aber sie hat erheblich an Dynamik verloren – mit einem halben Prozent Wachstum in diesem Jahr. Und 2020 wird nicht viel besser werden. Die Unternehmen müssen sich an diese neuen Bedingungen anpassen. Gott sei Dank fällt diese Strukturanpassung in eine andere Zeit als vor 30 Jahren. Gut ausgebildete Kräfte finden leichter andere Arbeitsplätze.
Ist das so, weil die Ökonomie gelernt hat, oder ist es Folge einer Sondersituation?
Beides. Es gibt mehr Mechanismen, die ausgleichend wirken. Wir haben über Arbeitszeitkonten und Kurzarbeit Instrumente, mit denen Unternehmen Schwankungen abfedern können. Es wirkt aber auch die demografische Entwicklung. Wir haben zu wenig Fachkräfte. Beides führt zu einer ganz anderen Lage als in den 1970er-Jahren, wo wir schnell steigende Arbeitslosenzahlen gehabt haben.
Deutschland lebte jahrelang vom Export. Inzwischen ist eine gut laufende Binnenkonjunktur der große Stabilisator der Entwicklung. Wie wird sich das in den nächsten Jahren weiterentwickeln?
Die Binnenkonjunktur ist sehr stabil. Das hängt damit zusammen, dass die verfügbaren Einkommen in Deutschland stetig gestiegen sind. Wir hatten in den letzten sechs Jahren bei den tariflichen Reallöhnen – also nach Inflation – jedes Jahr Zuwächse von eineinhalb bis zweieinhalb Prozent. Das hat es seit den 1970er-Jahren nicht mehr gegeben. Das sind keine großen Zahlen, aber sie addieren sich. Und die Inflation ist extrem gering. Damit ist der Konsum stabil. Das sind die Mechanismen, die jetzt gerade ausgleichend wirken. Von der Industrie her sind wir in der Rezession. Es ist nicht die tiefste, aber eine der längsten, die wir kennen.
Ist das temporär oder wird die Binnenkonjunktur auch auf lange Sicht an Bedeutung gewinnen?
Das sind langlebige Trends. Der Rückgang der Industrieanteile an der Volkswirtschaft setzt sich über Jahrzehnte fort. Die Bundesrepublik hat nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Industrieanteil von fast 50 Prozent begonnen und wir sind jetzt bei 22 Prozent. Andere Länder wie Frankreich oder die USA sind deutlich darunter, zum Teil bei zwölf Prozent. Das liegt daran, dass sich die Effizienzsteigerung in der Industrie auch langfristig fortsetzt. Automatische Fabriken bedeuten, dass weniger Menschen darin arbeiten, aber mehr darin produziert wird.
Deutschland hatte immer zwei große Stärken: Den Maschinenbau und die Automobilwirtschaft. Inzwischen ist China in vielen Bereichen des Maschinenbaus auf Augenhöhe. Und der Vorsprung im Automobilbau wird infrage gestellt. Wo liegen unsere Aussichten für künftige Jahrzehnte?
Es ist ein weltweites Phänomen, das Deutschland wegen des hohen Industrieanteils besonders betrifft. Auch weil wir besondere technologische Umbrüche haben, die gemeistert werden müssen. Das ist im Automobilbau der Wechsel zu neuen Antriebstechniken. Im Maschinenbau ist der Vorsprung und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie sehr hoch. Bei der Überwachung von großen Menschenmengen sind die Chinesen sicherlich vorn. Bei der Anwendung künstlicher Intelligenz auf Industrieprozesse hat Deutschland gute Chancen auf eine führende Stellung. Wir bauen auf der alten Tradition auf.
Sie haben die demografische Entwicklung angesprochen. Wie sollen die Anleger vorausdenkend mit den sich fundamental veränderten Rahmenbedingungen umgehen?
Jedes Altersvorsorgesystem hätte bei so einer demografischen Entwicklung Schwierigkeiten. Die Anzahl der zu Versorgenden steigt an. Und das hinterlässt Spuren im Finanzsystem. Es gibt viel Sparkapital und wenig Investitionen. Das bedeutet Druck auf das Zinsniveau. Man muss bei veränderten Bedingungen seine Gewohnheiten ändern. Geld auf dem Sparkonto, das sich mit Zins und Zinseszins vermehrt, funktionieren nicht mehr. Man muss versuchen, Felder zu finden, wo Renditen zu erwirtschaften sind. Das findet man bei Wertpapieren: Aktien, Anleihen und Immobilien.
Unsicherheit sorgt für Risiko-Aversion. Viele meiden gerade Wertpapiere, obwohl sie mit Zinsanlagen Monat für Monat Geld verbrennen. Wie kann man damit umgehen?
Das ist völlig verständlich. Menschen, die selbst mit solchen Anforderungen nie zu tun hatten, sind verunsichert. Wenn man sich einarbeitet, stellt man fest, dass der Wertpapierbereich gut funktioniert hat. Jeder Crash wurde innerhalb weniger Jahre wieder aufgeholt. Aber es gibt einfach keinen Königsweg mehr, ohne Aufwand zu sicherer Rendite zu kommen.
Das ifo-Institut hat vorgeschlagen, in einem Staatsfonds Rücklagen für die Altersvorsorge zu bilden. Was halten Sie davon?
Es ist ein Kennzeichen von vielen Ländern mit höheren Aktienquoten, dass Anreize dafür gegeben wurden. Es ist nicht so, dass Menschen in solchen Ländern schlauer sind als die Deutschen. Der Staat kann mit Anreizen die Menschen in vernünftige Richtungen lenken. Ob das ein Fonds ist oder ob es steuerliche Anreize sind, ist letztlich egal.
Da ist aber der deutsche Staat mit der unerbittlichen Besteuerung von Veräußerungsgewinnen nicht gerade vorbildlich.
Die Vorurteile, dass Aktien nichts für private Haushalte sind, sind auch in der Politik verbreitet. Da ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur keine Anreize zum Aktiensparen gegeben werden, sondern die Aktie sogar benachteiligt wird, wie etwa mit den Plänen zur Besteuerung von Aktienumsätzen.
Interview: Martin Prem