Das Labor für die deutsche Wirtschaft

von Redaktion

Die Fraunhofer-Gesellschaft hat sich in 70 Jahren zu einer der wichtigsten Forschungseinrichtungen der deutschen Industrie entwickelt. Dabei drohte der Organisation in den 50er Jahren das Aus.

VON SEBASTIAN HÖLZLE

München – Das Patent hatte die Kraft, einen ganzen Industriezweig durcheinanderzuwirbeln: Anfang der 80er-Jahre komprimierte eine Forschergruppe um den Mathematiker Karlheinz Brandenburg Audiodaten des A-cappella-Songs „Tom’s Diner“ in ein neues Format. Ein neuer Standard für Musikdateien war geboren: MP3. Bereits Ende der 90er-Jahre machten Internet-Tauschbörsen wie Napster Musik im MP3-Format populär, im Handel erschienen erste Abspielgeräte. Nach der Jahrtausendwende verhalf Apple mit seinem iPod Musik im MP3-Format endgültig zum Durchbruch.

Die Tonträgerindustrie, die über Jahrzehnte mit Schallplatten und CDs viel Geld verdient hatte, stürzte in eine schwere Krise. Das MP3-Patent zwang die Industrie, sich neu zu erfinden. Bis heute lagert Musik im MP3-Format auf vielen Smartphones, Streamingdienste wie Spotify lösen das Erfolgspatent erst allmählich ab.

Heimat der MP3-Forscher: Das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen im fränkischen Erlangen – eines von insgesamt 72 Fraunhofer-Instituten in Deutschland. Allein Oberbayern zählt fünf Einrichtungen: Garching (Landkreis München) beheimatet das Fraunhofer-Institut für Angewandte und Integrierte Sicherheit, in Holzkirchen (Landkreis Miesbach) gibt es eine Außenstelle des Instituts für Bauphysik, Freising ist Heimat des Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung.

Und in München haben gleich zwei Fraunhofer-Institute ihren Sitz: Es gibt eines für Kommunikationstechnik und eines für Modulare Festkörper-Technologien. München bietet eine weitere Besonderheit: Die Fraunhofer Gesellschaft, Dachorganisation der 72 Institute, hat ebenfalls ihren Sitz in der bayerischen Landeshauptstadt. Gestern vor genau 70 Jahren wurde sie gegründet.

1949 ging es den Wissenschaftlern aber nicht um die Kompression von Musik-Dateien, sondern um den Wiederaufbau des Landes. Bergbau, Hüttentechnik und Maschinenbau standen im Mittelpunkt der Forschung. In den 50er-Jahren wurde die Bundesregierung in Bonn auf die Einrichtung aus Bayern aufmerksam, sie wurde als dritte Kraft in der deutschen Forschungslandschaft offiziell anerkannt. Zwei Organisationen gab es bereits: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft. Dort wurde der Erfolg des Konkurrenten aus München mit Argwohn beobachtet. Der Fraunhofer-Gesellschaft drohte sogar die Liquidation. Nur dank finanzieller und politischer Unterstützung der Länder Bayern und Baden-Württemberg gelang es der Fraunhofer-Gesellschaft, die Krise zu überstehen und sich zu einer bundesweiten Forschungseinrichtung zu entwickeln.

Grund für den Erfolg ist auch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Ende der 60er-Jahre entfiel die Hälfte des Budgets der Fraunhofer-Gesellschaft auf die Verteidigungsforschung. Erst die 68er-Bewegung stellt die boomende Militärforschung infrage, schrittweise schraubte die Fraunhofer-Gesellschaft die Verteidigungsausgaben zurück und konzentrierte sich stärker auf die Industrie.

Heute liegt das jährliche Forschungsvolumen – offiziell ist die Fraunhofer-Gesellschaft ein Verein – bei 2,5 Milliarden Euro. Zwei Drittel davon erwirtschaften die Institute selbst durch Veträge mit Unternehmen. Ein Drittel des Geldes kommt von Bund und Ländern.

„Es braucht nicht nur das Silicon Valley“, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gestern in München. Auch Bayern sei als Forschungsstandort unschlagbar. Fraunhofer-Institut Nummer 73 ist bereits in Planung: In wenigen Jahren soll im Freistaat ein Institut für Kognitive Systeme und Künstliche Intelligenz entstehen.

„Fraunhofer steht für den Mut des Ausprobierens“, lobte Infineon-Chef Reinhard Ploss den Forschergeist. Nicht nur für kleine Unternehmen und den Mittelstand sei die Forschung von Relevanz, sondern auch für die Großindustrie. In Zukunft sei der Fokus auf Schlüsseltechnologien entscheidend, etwa Energie, Mobilität, industrielle Fertigung und Cybersicherheit.

Und der MP3-Player hat bereits gezeigt: Es wäre nicht das erste Mal, dass es Fraunhofer-Forschern gelingt, eine ganze Industrie zu verändern.

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