Vor zehn Jahren schlitterte die US-Investmentbank Lehman Brothers in die Insolvenz – und löste damit eines der größten Beben der Wirtschaftsgeschichte aus. Wir sprachen mit dem Präsidenten des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, über die Folgen der Krise und die Fehler der Bundesregierung bei der Bankenrettung.
-Erinnern Sie sich noch, wo Sie am 15. September 2008 waren?
Ja, ziemlich gut sogar. Es war ein Montag, ich saß gerade in meinem Büro in Oxford. An der Universität war ich noch neu, erst wenige Tage zuvor war ich nach Oxford gewechselt. Und kaum war ich da, brach die Krise aus. Ich erinnere mich noch, wie am Freitag davor darüber diskutiert wurde, ob Teile von Lehman verkauft werden sollten. Die Rede war von „Filetstücken“ und „Juwelen der Bank“. Das klang so, als hätte die Bank tatsächlich noch irgendwelche Kronjuwelen zu verkaufen. Am Montag kam der Schock: Die Bank ist pleite.
-Sie waren überrascht?
Dass es Probleme bei Lehman gibt, war bekannt. Aber dass man eine so bedeutende Bank in die Pleite rutschen lassen würde, das war neu. Bei anderen Banken hatte man zuvor meistens Käufer gefunden oder der Staat hatte eine Pleite verhindert.
-Die Obama-Regierung hätte damals die Möglichkeit gehabt, die Bank zu retten. Hatte die US-Regierung die weltweiten Folgen einer Pleite unterschätzt?
Es gibt zwei Theorien. Die eine sagt: Ja, die Regierung hat die Folgen unterschätzt. Die andere Theorie besagt, dass die Regierung die Pleite bewusst in Kauf genommen hat, weil sie davon ausging, dass vor allem ausländische Gläubiger außerhalb der USA von der Lehman-Pleite betroffen sein würden. Vermutlich ist an beiden Theorien was dran. Denn hätte die amerikanische Regierung gewusst, wie gravierend die Auswirkungen einer Pleite von Lehman sind, hätte sie das vermutlich verhindert.
-Viele Länder – darunter auch Deutschland – schlitterten nach der Lehman-Pleite in die Rezession, die Arbeitslosenzahlen stiegen an. Hätte eine Rettung der Bank das Schlimmste verhindert?
Darüber lässt sich nur spekulieren. Einen konjunkturellen Abschwung hätte es wohl auch so gegeben. Ohne die Pleite wäre er aber vermutlich deutlich moderater ausgefallen. Für die Banken war eine Art von Elektroschock aber nötig, denn die Spekulationsgeschäfte in den Banken hatten damals überhandgenommen. Für eine Schocktherapie hätte man aber nicht zwingend eine Banken-Pleite gebraucht.
-Welche Alternative hätte es gegeben?
Es spricht viel dafür, dass das Fallenlassen von Lehman ein Fehler war. Der Staat hätte Lehman retten und gleichzeitig die Banken strenger regulieren können. Dann hätten wir uns diese ganz schwere Rezession erspart. Das Problem ist nur: Bei einer Rettung hätte es genauso passieren können, dass die Politik an ihrer laxen Regulierung festgehalten hätte. Dann wäre der große Knall später gekommen – und womöglich noch heftiger. Auch die Politik reagiert oft erst nach einem Schock.
-Fakt ist: Lehman ging pleite, auf einmal geriet auch in Deutschland der Finanzmarkt ins Taumeln. Bei der Bankenrettung gab es zwei unterschiedliche Philosophien: Die US-Regierung schnürte ein 700-Milliarden-Paket, um Anteile an den Kriseninstituten zu kaufen. In Deutschland versprach der Staat vor allem Garantien. Heute zeigt sich, dass die USA mit ihrer Art der Rettung teilweise sogar Gewinn gemacht haben. War die US-Regierung cleverer?
Ja. Sie war cleverer und hat entschlossener gehandelt. In Europa war die Politik zu zögerlich und nicht entschlossen genug.
-Was hätte die Bundesregierung bei der Bankenrettung besser machen können?
In Deutschland hätte man die Banken schneller zwingen müssen, ihr Eigenkapital zu erhöhen. Und man hätte entschlossener Aktionäre haften lassen müssen.
-Die Aktionäre sämtlicher deutscher Banken?
Nein. Lediglich die Aktionäre von Banken, die damals in Schwierigkeiten steckten. Das waren vor allem die Hypo Real Estate und die Commerzbank. Wenn eine Bank in Schwierigkeiten steckt und öffentliche Hilfen braucht, müssen dafür zuerst die Aktionäre haften. Die Bank muss dann verstaatlicht werden, während die Aktionäre ihre Ansprüche verlieren. Auf diese Weise ist der Steuerzahler besser geschützt.
-Wie wirkt die Finanzkrise bis heute nach?
Zum einen in den Staatsfinanzen. Die Bankenrettung und die Konjunkturprogramme gegen die Rezession haben in vielen Ländern dazu geführt, dass die Staatsschulden stark angestiegen sind, zunächst auch in Deutschland. In Deutschland ist es gelungen, diese Schulden wieder zu reduzieren.
-Und außerhalb Deutschlands?
Andere Länder, in denen die Wirtschaftsentwicklung ungünstiger war, kämpfen immer noch mit den Folgen. In Großbritannien beispielsweise ist die Staatsverschuldung noch immer sehr hoch und der Finanzsektor hat sich dort noch längst nicht erholt. In der Eurozone kam zusätzlich noch die Euro-Krise dazu. Politisch wirkt die Krise nach, weil sich die Sicht der Bevölkerung auf den Finanzsektor und unser Wirtschaftssystem insgesamt verändert hat. Viele Menschen haben sich sehr darüber geärgert, dass Fehler der Bankmanager auf Kosten der Steuerzahler gingen. Im Bankensektor hatten viele über Jahre schließlich sehr gut verdient.
-Sie sprechen von den hohen Boni?
Ja. Vor allem die Investmentbanker haben sehr hohe Boni eingestrichen. Sie sind mit ihren spekulativen Geschäften hohe Risiken eingegangen und haben am Ende nur Trümmer hinterlassen, die der Staat wegräumen durfte. Die Kritiker des Finanzsektors haben völlig recht: Es ist ein Riesenskandal, dass Milliardenverluste der Banken auf die Steuerzahler abgewälzt wurden, während sie sich zuvor mit Rückendeckung implizierter Staatsgarantien bereichert hatten.
-Beobachten Sie solche Exzesse nach wie vor?
Das hat sich etwas beruhigt. Aber es gibt nach wie vor so etwas wie implizite Staatsgarantien für große Banken. Das heißt, die Banken und ihre Gläubiger wissen, dass der Staat schon einspringen wird, wenn etwas schiefgeht. Das muss sich ändern. Das ist eine implizite Subvention für die Banken und führt dazu, dass sie noch immer Anreize haben, zu hohe Risiken einzugehen.
-Sind die großen internationalen Banken heute immer noch „too big to fail“, also zu groß, um sie in einer Krise pleitegehen zu lassen?
Leider ja. Die Eigenkapitalausstattung der Banken hat sich zwar verbessert – aber bei Weitem nicht genug. Dabei erfüllt eine höhere Eigenkapitalquote zwei Funktionen: Zum einen schützt sie vor möglichen Krisen, weil Banken weniger spekulieren, da sie anfallende Verluste ja aus eigener Tasche bezahlen müssten. Und kommt es doch zu einer Krise – das ist die zweite Funktion – werden Verluste nicht auf den Steuerzahler abgewälzt, weil die Bank ihre Verluste aus ihrem Eigenkapital bezahlen kann. Derzeit liegt der Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme bei europäischen Banken bei rund fünf Prozent. Nötig wäre eine Quote von mindestens acht Prozent, so viel haftendes Kapital sehen die Regeln der europäischen Bankenunion vor.
-Wie schätzen Sie die Situation der Deutschen Bank ein? Ist das größte deutsche Geldinstitut ebenfalls „too big to fail“?
Ja, ganz klar. Eine Pleite der Deutschen Bank hätte immense systemische Auswirkungen weit über Deutschland hinaus. Der Staat müsste im Falle einer Pleite mit Steuergeldern einschreiten und sie stützen.
-Der Chef der Deutschen Bank, Christian Sewing, hatte zuletzt gesagt, dass es zu viele Banken in Europa gibt. Man brauche weniger, dafür aber starke Banken. Die Folge von Fusionen wäre aber auch: Je größer das Institut, desto systemrelevanter ist es. Ist eine weitere Konzentration nicht genau der falsche Weg?
Konzentration hat Vor- und Nachteile. Systemrelevanz sehr großer Banken ist ein Problem. Immerhin gelten für die großen systemrelevanten Banken strengere Eigenkapitalvorschriften als für kleine Banken. Der Fusionsdruck in der Branche ist leider aber auch eine unbeabsichtigte Nebenwirkung der Regulierung. Betroffen davon sind aber vor allem kleine Banken: Es wurden ja nicht nur die Eigenkapitalvorschriften verschärft, gleichzeitig wurde die Regulierung allgemein stark ausgebaut. Für eine Bank ist die Bürokratie ein riesiger Fixkostenblock. Vor allem die Volks- und Raiffeisenbanken werden durch diese Politik zerstört. Dabei haben die Genossenschaftsbanken die Krise nicht verursacht und sind dem Steuerzahler auch nicht zur Last gefallen, weil sie über ein regional verankertes und solides Geschäftsmodell verfügen. Jetzt sorgt die Regulierung dafür, dass nur noch sehr große Banken überleben können. Das ist kontraproduktiv.
-Die Lehman-Pleite hat 2008 nicht nur gezeigt, welche Systemrisiken mit einer Banken-Pleite einhergehen. Auch Privatanleger haben damals viel Geld verloren, weil sie von ihrer Hausbank Lehman-Zertifikate empfohlen bekommen hatten. Hat sich als Lehre aus der Pleite immerhin der Verbraucherschutz für Bankkunden verbessert?
Nein, das ist leider nicht gelungen. Heute muss man als Bankkunde zwar viele Formulare ausfüllen und alles Mögliche unterschreiben. Aber kein Mensch liest das wirklich durch. Verbraucherschutz in dieser Form funktioniert nicht. Immerhin können Bankkunden zuversichtlich sein, dass ihre Einlagen bis zu einer bestimmten Höhe durch den Einlagensicherungsfonds geschützt sind. Bei anderen Finanzprodukten müssen Kunden lernen, dass diese Produkte nicht automatisch sicher sind. Als Grundregel gilt: Niemand sollte ein Finanzprodukt kaufen, das er nicht versteht.
Interview: Sebastian Hölzle