Warum der Entlastungsbetrag in der Pflege oft nicht hilft

„Danke sagen oder Kuchen backen“

von Redaktion

von Christian Marxt

Rottach-Egern – Rentnerin Iris Haller (75) aus Rottach-Egern im Landkreis Miesbach ist auf Hilfe angewiesen. Seit Februar pflegt sie ihren krebskranken Mann Hans (81), Pflegestufe vier. Über eine Magensonde wird er ernährt, bekommt täglich Infusionen. Nur wenige Stunden am Tag bleiben für sonstige Notwendigkeiten wie Einkäufe oder Fahrten zum Friseur, zu Pflegebehandlungen oder wie zuletzt zum Fotostudio, um Passfotos für den Schwerbehindertenausweis zu machen.

„Weil ich nicht Auto fahren kann, sind wir abhängig von der Hilfe unserer Nachbarn und Freunde“, sagt Iris Haller. Da ist zum Beispiel Sepp, ein 83-jähriger Freund der Hallers. Regelmäßig fährt er sie zu Terminen in der Umgebung und zum Einkaufen. Oder das chinesische Pärchen Mandy und Wong, das die Hallers neben ihrer Arbeit unterstützt, wo es nur geht.

Für diese Hilfen ist eigentlich der sogenannte Entlastungsbetrag der Pflegeversicherung gedacht. Demnach stehen Pflegebedürftigen jeder Pflegestufe monatlich 125 Euro für sogenannte niedrigschwellige Hilfeleistungen wie Einkaufen, Fahrten, Botengänge, Begleitung bei Spaziergängen, Vorlesen, Gartenarbeit oder Fensterputzen zu. Doch die Entlastung kommt nicht an. Laut Gesetzgeber dürfen diese einfachen Hilfeleistungen, die zum Teil jeder Jugendliche übernehmen könnte, nur Personen anbieten, die einen Pflegekurs besucht haben. In Bayern muss ein solcher Pflegekurs mindestens 40 Unterrichtsstunden betragen. Für die Hallers absolut utopisch. „Was ich als Entschädigung machen kann, ist Danke sagen. Oder Kuchen backen. Welch ein Irrsinn!“, so die Rentnerin. Sinnvoll sei es doch, wenn sie die Entlastung in Anspruch nehmen und sich finanziell für die Fahrten und Einkäufe revanchieren könnte.

Hohe Hürden für Helfer

„Die Hürden für den Entlastungsbetrag sind viel zu hoch“, sagt auch Bettina Schubarth, Pressesprecherin des Sozialverbands VdK Bayern. „Dass man Schulungen mit mindestens 40 Stunden belegen muss, nur um für den pflegebedürftigen Nachbarn einkaufen gehen zu dürfen, ist völlig lebensfremd“, so die Sprecherin.

Pflegeschulungen sind für Anbieter einfacher Hilfeleistungen in allen 16 Bundesländern notwendig – allerdings mit unterschiedlichen Ausprägungen. Während man in Mecklenburg-Vorpommern einen 20-stündigen Pflegekurs absolvieren muss, sind in Schleswig-Holstein 120 und in Baden-Württemberg sogar mindestens 160 Stunden nachzuweisen. Unterrichtet werden in den Schulungen laut Bayerischem Gesundheitsministerium hauswirtschaftliche Inhalte sowie Kenntnisse zum Umgang mit pflegebedürftigen und demenzkranken Menschen. Allerdings bieten nur wenige Träger und auch nur in Ballungsräumen diese Pflegekurse an. Als Beispiel nennt das Ministerium auf Anfrage die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft in Nürnberg. Allein die Fahrten zu den Schulungen bedeuten für viele potenzielle Helfer einen großen logistischen Aufwand. Immerhin: Laut Gesundheitsministerium trägt die Schulungskosten im Normalfall der Anbieter.

Kaum professionelle Entlastungsangebote

Sowohl in Bayern als auch in anderen Bundesländern wird der Entlastungsbetrag nur in wenigen Fällen abgerufen. Zum einen wegen der hohen Hürden für Helfer, zum anderen, weil einfache Entlastungsleistungen kaum professionell angeboten werden. Gerade einmal 33 Anbieter gebe es im Freistaat, sagt Bettina Schubarth vom VdK, darunter Pflegedienste, Ergotherapeuten oder einzelne Senioren-Servicestellen. Einen Dienstleister allein für den Entlastungsbetrag zu finden, sei fast unmöglich. „Einerseits liegt das Geld bereit und wird nicht abgeholt – andererseits nehmen Pflegedienste, die bereits Pflegebedürftige betreuen, die 125 Euro für zusätzliche Hilfeleistungen gerne mit“, sagt Schubarth.

Bei den Hallers klappt nicht einmal das. „Weil mein Mann künstlich ernährt wird, hätten wir nur zwischen 14 und 16 Uhr Zeit für zusätzliche Fahrten“, erklärt die Rentnerin. „Die Pfleger sind komplett ausgelastet. Die kommen doch nicht extra 20 Kilometer aus Miesbach, um meinen Mann zum Friseur zu bringen.“ So bleibt das Ehepaar weiterhin auf die Hilfsbereitschaft der Nachbarn und Freunde angewiesen.

„Entlastungsbetrag ist fehlgeschlagen“

Auch bei Pflegebedürftigen in niedrigeren Pflegestufen kommt die Hilfe meistens nicht an. „Das Eingeständnis, dass man auf einmal pflegebedürftig ist, ist für ältere Menschen oft nicht einfach – und dann stellt man verwundert und enttäuscht fest, dass einem das gar nichts bringt“, sagt Schubarth.

Besonders der Entlastungsbetrag, ursprünglich als Unterstützung der Angehörigen und der Nachbarschaftshilfe gedacht, sei in der Umsetzung durch viele Verklausulierungen und aus Angst vor falscher Inanspruchnahme komplett fehlgeschlagen. Der VdK Bayern fordert deshalb: „Niedrigschwellige Angebote sollten auch niedrigschwellig ausgerichtet sein.“

Vorgaben für Pflege werden geprüft

Auf Anfrage betont Melanie Huml (CSU), Bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, dass sie die Hinweise auf einen möglichen Verbesserungsbedarf beim Entlastungsbetrag ernst nehme. Die Pflege-Experten des Ministeriums gehen derzeit dem Vorwurf der Praxisferne nach. „Mit den Schulungen soll vor allem erreicht werden, dass Pflegebedürftige richtig versorgt werden. Aber sollten die Hürden tatsächlich zu hoch sein, werden wir sie abbauen“, verspricht Huml.

Der VdK Bayern ist ebenso wie viele Betroffene überzeugt, dass auch ohne Schulungen viel geleistet werden kann. Der hilfsbereite Nachbar will unterstützen – und keine professionelle Pflegekraft werden. Deshalb die Forderung: „Das Ministerium muss seine Vorgaben dringend überarbeiten.“

Es bleibt also abzuwarten, ob der Zugang zum Entlastungsbetrag tatsächlich einfacher wird und Betroffene wie das Ehepaar Haller zumindest ein wenig Erleichterung im aufreibenden Pflegealltag bekämen.

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