Baierbrunn – 1800 Meter Höhe, dichter Nebel. Ein Skitourengeher hat die Orientierung verloren und ist über einem Steilhang abgerutscht. Ein Bergwachttrupp ist unterwegs, den Verletzten zu bergen. Auch die Retter sehen kaum einen Meter weit. Doch auf dem Display ihres Smartphones haben sie die Umgebung im Blick, als wäre es bestes Wetter. Jeder größere Stein und fast jede Unebenheit ist zu erkennen. Und auf jedem Bildschirm ist auch die augenblickliche Position der anderen Retter exakt markiert. Keine mühsame Koordination per Funk ist nötig. Schritt für Schritt und vor allem trittsicher arbeiten sich die vier Männer zum Verletzten vor.
Ein junges Software-Unternehmen aus Baierbrunn im Landkreis München hat dies ermöglicht. Gründer Florian Siegert ist Biologe und Professor am Geo Bio Center der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Firma 3D Realitymaps hat den Ehrgeiz, ein komplettes virtuelles Abbild der Alpen für Mobilgeräte zur Verfügung zu stellen. Die grundlegende Technologie stammt aus der Raumfahrt: Sie wurde gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt für den Weltraum entwickelt, genauer für die 3D-Modellierung des Planeten Mars.
Das, was daraus geworden ist, hilft nicht nur Bergwachtleuten bei ihren Einsätzen. Bergbahnen und Skigebiete sind ebenfalls Partner von 3D Realitymaps, mit einem völlig anderen Hintergrund: Sie binden beispielsweise Gasthöfe und Hotels ein. Die werden in der entsprechenden App nicht nur angezeigt. Nutzer können darüber auch reservieren, Skipässe kaufen oder das Wetter im Skigebiet checken. Dazu allerdings braucht 3D Realitymaps Partner. Skiverbünde wie Engadin St. Moritz, Davos Klosters, Dolomiti Superski oder Ski-Amadé hat das Münchner Unternehmen bereits als Partner gewonnen, damit sie ihren Kunden entsprechenden Anwendungen anbieten können. Aber sie profitieren auch ganz anders von der Software. Sie „können anhand der Höhenmodelle beispielsweise auch die teure Kunstschneeproduktion optimieren“, sagt Siegert.
Die Betreiber von Liftanlagen und Bergbahnen oder Touristen im Komfortmodus haben völlig unterschiedliche Anwendungen. Die bindende Klammer ist die Software-Basis für die virtuelle Darstellung der Alpen: Aus Satellitenbildern und Luftaufnahmen werden fotorealistische Höhenmodelle errechnet.
Die virtuelle Welt der Alpen ist auch für ganz normale Wanderer – in diesem Fall als 3D-Outdoor Guides – verfügbar. Es gibt eine Anzahl von 3D-Landkarten in gedruckter Form. Als App lässt sie sich sowohl für IOS als auch für Android herunterladen. Sie ist zunächst kostenlos, allerdings – mit eingeschränktem Funktionsumfang. Die Online-Karte, das Speichern oder Teilen von Touren ist auch hier möglich. Mehr aber auch nicht. Wer Tourenvorschläge herunterladen will, Offline-Karten per WLAN speichern oder unterwegs die eigene Position per GPS-Signal feststellen will, muss dafür zahlen. Abomodelle gibt es von 4,99 Euro (7 Tage) bis 39,99 Euro (ein Jahr).
Ein Versuch ergab: Es klappt. Zumindest bei größeren Handys mit ausreichend großer Anzeige. Smartphones mit Mini-Bildschirm machen dagegen öfter einmal Schwierigkeiten, weil Blendeinwirkung durch die Sonne und die eingeschränkte Fingerfertigkeit im offenen Gelände manchmal zu Fehlbedienungen führen. Das will geübt sein. Doch die Orientierung im angezeigten Gebiet funktioniert problemlos und auch zügig, wenn man Details der Region vorher im Offline-Modus per WLAN hochgeladen hat.
Doch nicht nur im wirklichen Gelände lässt sich die Software nutzen, sondern auch virtuell. Wer sich mitten in einem Raum des Unternehmens in Baierbrunn eine VR-Brille aufsetzt und sich durch die virtuelle Realität der Kartenwelt bewegt, wähnt sich im Gebirge. Als Beobachter hat man den Eindruck, über realen Wanderwegen der Alpen dahinzuschweben.
Beim realen Wandern im Gebirge hat der Nutzer die Wahl zwischen topografischer Karte, zweidimensionaler und dreidimensionaler Darstellung. Das hochaufgelöste Panorama ist bei entsprechend schnellen Geräten unschlagbar. Felsformationen und Gebirgspanoramen wirken nahezu fotorealistisch. Anders als aus topografischen Karten kann man Gefahrenzonen an der Geländestruktur erkennen, beispielsweise wo ein Steinschlag droht oder ein Lawinenabgang.
Nur verdientes Geld wird ausgegeben
Und auch der Schwierigkeitsgrad einer Tour lässt sich besser ermitteln als auf einer topografischen Karte, die oft gar nicht verrät, ob ein Weg relativ geradlinig verläuft oder zu einem kräftezehrenden Auf und Ab zwischen zwei Höhenlinien verläuft.
In vieler Hinsicht ähnelt das Unternehmen aus Baierbrunn und seine Gründungsgeschichte anderen Start-ups. Als passioniertem Bergsteiger und Skifahrer kam Florian Siegert die Idee, die Höhenmodelle für Alpinisten verfügbar zu machen. Daraus entstand das Unternehmen mit derzeit zwölf Mitarbeitern.
Gemessen an Hightech-Start-ups aus dem Silicon Valley hat die Gründung aus dem Isartal aber ein erzkonservatives Geschäftsmodell: Das Start-up gibt nur Geld aus, das es vorher auch verdient hat. Dann erst werden Flugzeuge oder Drohnen losgeschickt, um neue Gebiete zu erfassen oder vorhandene Aufnahmen zu aktualisieren.
Das hat einen Nachteil: Start-ups nach amerikanischem Muster müssen nicht abwarten, bis über zahlende Kunden die Mittel für die geplante Expansion in die Kassen fließen. Beispielsweise bei Elon Musk und seinem Elektroauto-Unternehmen Tesla applaudieren die Investoren selbst dann, wenn das Unternehmen das von ihnen zur Verfügung gestellte Aktienkapital im Rekordtempo verbrennt – nur um schneller zu wachsen als andere.
Ziel: Ein lückenloses Abbild der Alpen
Florian Siegert sieht die Gefahr, trotz des technischen Vorsprungs auf lange Sicht von wachstumsstarken Konkurrenten mit aggressiveren Geschäftsmodellen abgehängt zu werden. Er spielt mit dem Gedanken, für die Finanzierung eines schnelleren Wachstums Partner an Bord zu nehmen. Die Nutzer können dann darauf hoffen, dass aus bisher 80 Regionen früher ein lückenloses dreidimensionales Abbild der Alpen entsteht.