Google, Facebook, Amazon und Co: Innovative Unternehmen, die in wenigen Jahren zu Großkonzernen heranwachsen, sitzen meist in den USA – nicht in Deutschland. Wir sprachen mit dem Stanford-Professor und Innovationsexperten Burton Lee darüber, warum Europa den USA hinterherhinkt.
-Man hat das Gefühl: In den USA schießen die Start-ups wie Pilze aus dem Boden. In Deutschland sinkt dagegen die Zahl der Firmengründungen von Jahr zu Jahr. Woran liegt das?
Man muss unterscheiden zwischen einem Start-up und der Gründung eines klassischen Unternehmens. Auch in den USA sinkt die Zahl der klassischen Firmengründungen. Die Zahl der Start-ups steigt dagegen. Das liegt daran, dass ins Silicon Valley immer mehr internationale Start-ups aus Europa und Asien kommen, die gar nicht in den USA gegründet wurden. Aber auch, weil die Zahl von Start-ups aus US-Universitäten stark zunimmt. Es gibt allerdings kein statistisches Amt für das Silicon Valley. Keiner weiß genau, wie viele Start-ups dort sind. Es wird geschätzt, dass heute zwischen 20 000 und 40 000 bei uns aktiv sind.
-Was versteht man genau unter einem Start-up?
Es gibt verschiedene Anforderungen, die erfüllt sein müssen. Ein Start-up muss zum Beispiel in Privatbesitz sein, es darf also keine Aktien geben, die an öffentlichen Börsen gehandelt werden. Ein Start-up muss unabhängig sein. Ein Start-up muss typischerweise auf der Suche nach Wagniskapital sein oder welches bekommen haben – obwohl wir ab und zu einige Ausnahmen hier sehen. Ein Start-up muss ein neues Produkt, eine Dienstleistung oder ein neues Geschäftsmodell haben, damit experimentieren und versuchen, Kunden und Märkte dafür zu gewinnen. Das Produkt oder die Dienstleistung muss außerdem technologiebasiert sein. Und das Ziel eines Start-ups ist es nicht, das Unternehmen für zukünftige Generationen in der Familie zu halten, sondern es irgendwann gewinnbringend zu verkaufen, damit man das nächste Start-up gründen kann.
-Mitarbeiterzahl und Umsatz spielen keine Rolle?
Nein. Technisch gesehen betrachten wir zum Beispiel Uber und Airbnb immer noch als Start-ups – obwohl beide Unternehmen tausende Mitarbeiter beschäftigen und sehr hoch bewertet sind. Google und Facebook sind seit mehreren Jahren keine Start-ups mehr.
-Haben es Start-ups in den USA leichter als in Deutschland?
Ja, die Rahmenbedingungen sind dort in einer Reihe von Bundesländern viel besser. Die meisten Start-ups in den USA gründen sich juristisch gesehen in Delaware, aber sitzen dann zum Beispiel in Kalifornien. Die Gesetze in Delaware sind unternehmensfreundlich, sie schützen Investoren und Gründer. Es hat sich eine ganze Industrie um diese Briefkastenfirmen entwickelt, die sich um die Gründungen kümmern.
-Sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen der einzige Grund?
Nein, es gibt weitere – auch kulturell. Amerikaner sind risikofreudiger als Europäer. Wenn man in den USA mit einem Start-up scheitert, ist das nicht gleichbedeutend mit einem Scheitern im Leben. Das wird in den USA eher als gute Erfahrung angesehen. Man analysiert die Gründe für das Scheitern und versucht es noch einmal. In Europa führt ein Scheitern oft zum Ende der Karriere. Hier ist die Versagenskultur eine andere. In den USA ist eine breite soziale Bewegung um Entrepreneurship entstanden, die in den Unis wächst. Wenn man eine interessante Idee hat, gibt es gute Möglichkeiten, Mitgründer und Investoren zu finden und es zu probieren. Die Umwelt für Start-ups ist sozial, aber auch finanziell besser.
-Wie sieht es mit der Qualifikation aus? Gibt es in den USA mehr potenzielle Start-up-Gründer?
Ja, auch das Bildungssystem spielt eine wichtige Rolle. Das beliebteste Hauptfach an den US-Universitäten ist zurzeit Computerwissenschaften, gefolgt von Betriebswirtschaft und Ingenieurwissenschaften. Studenten und Schüler haben Möglichkeiten, verschiede Fächer zu kombinieren, zum Beispiel Design mit Engineering und Business, und werden dazu befördert, neue Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu erfinden. Das System erzeugt viele Leute mit den richtigen Kompetenzen, um Start-ups und Produkt-Mannschaften zu führen. Dazu kommt, dass das Studium sehr praxis- und projektorientiert ist. Hier in Europa gibt es eine Menge Studenten, die während ihres gesamten Studiums keinen Kontakt zu Unternehmen haben.
-Man könnte finanzielle Anreize für Investoren in Europa schaffen und Gesetze gründerfreundlicher gestalten. Das soziale Umfeld lässt sich aber nicht so leicht ändern.
Man muss in den Schulen anfangen, den Unternehmergeist zu säen. Es muss vermittelt werden: Wer eine Idee hat, kann sie auch verwirklichen. Es geht dabei auch um Träume. Und es träumen viel zu wenige Leute hier in Europa. Es gibt große Hoffnungslosigkeit in manchen Teilen der Welt – vor allem junge Leute stellen sich die Frage: Was soll ich mit meinem Leben schaffen? Gründertum bietet eine Möglichkeit, sich selbst und die eigenen Träume zu verwirklichen. Derzeit bietet das Bildungssystem in Deutschland und Europa wenige Anreize dafür, es wirkt eher kontraproduktiv. In der Schule heißt es: Du bist jetzt und immer schlecht in Mathe. Das System sagt den Jungen, dass das dann ein Leben lang gilt. Wir müssen diese Mauer in der Ausbildung abbauen.
-Kann Deutschland den Rückstand zu den USA überhaupt noch aufholen?
Ja, sicher! Aber nicht sofort und nicht in allen Bereichen. Bei Verbraucher- und Enterprise-Software muss Deutschland noch viel mehr investieren und leisten. Anders im Bereich Transport – besonders bei Zügen, Lkw und Logistik. Hier sieht man viele innovative Ideen, gute Führungskräfte und starke technische Kompetenzen. Es gibt interessante Start-ups wie Einride – einen semi-autonom fahrenden Lkw aus Schweden – oder Lilium aus der TU München. Das sind vier Jungs, die ein autonomes, elektrisches Flugtaxi auf den Markt bringen wollen. Lilium hat es geschafft, Investoren aus China und London zu gewinnen, die vor einigen Wochen 90 Millionen Euro in die Idee investiert haben. Das ist großartig – und völlig neu: Denn die USA waren hier wenig beteiligt. Die Chinesen suchen mittlerweile gezielt nach solchen Beteiligungen – und sie stehen noch am Anfang. Für die Europäer bedeutet das: Sie haben künftig für ihre Start-ups mehr Wahlmöglichkeiten und Finanzierungschancen. Für die USA bedeutet das mehr Konkurrenz im Technologiesektor – und das ist gut so. Konkurrenz belebt das Geschäft.
-Welche Rolle spielen bei dieser Entwicklung die alteingesessenen Unternehmen – zum Beispiel in der Automobilindustrie?
Es fangen jetzt einige dieser deutschen Unternehmen an, mit Start-ups eng zusammenzuarbeiten – oder kaufen sie gleich auf. Sie haben erkannt, dass die Mannschaften dort oft viel disruptiver und innovativer sind als ihre eigenen Mitarbeiter. Man braucht eine Mischung aus interner und externer Innovation.
-Gehen wir einen Schritt weiter: Eine gute Idee führt nicht immer zum Erfolg. Was ist entscheidend dafür, dass sich ein Start-up zu einem Google oder einem Facebook entwickelt?
Am wichtigsten ist die Gründer-Mannschaft. Die meisten Gründer sind mit der ersten Idee nicht erfolgreich. Wenn sie zum Beispiel Schwierigkeiten bei der Kundenakquise haben, müssen sie die Idee aufgeben und sich neu orientieren. Das kann nicht jeder. Man muss dazu fähig sein, seine Idee loslassen oder umgestalten zu können. Kluge Investoren investieren in gute, flexible Mannschaften. In Europa sieht man das oft anders: Hier wird zuerst in die Technologie investiert. Wir glauben, dass das ein Fehler ist.
Interview: Manuela Dollinger