Biberach – Das Gesetz macht sie zu hilflosen Helfern: Notfallsanitäter befinden sich in einer ständigen Gratwanderung zwischen Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Nun macht das Deutsche Rote Kreuz (DRK) im baden-württembergischen Biberach einen Vorstoß, die Gesetzeslage zu ändern. Sogar Gesundheitsminister Jens Spahn reiste am Freitag in den Ort und sprach dort mit den DRK-Mitgliedern über deren Lösungsansätze aus dem Gesetzesdilemma.
Das DRK in Biberach hat ein Konzept erarbeitet, das heilkundliche Maßnahmen durch Notfallsanitäter im Rettungsdienstgesetz auf Landesebene verankern will. „Es gibt einen Teil von Tätigkeiten, der ist grundsätzlich ärztlichem Tun, der Heilkunde, vorbehalten“, so der Gesundheitsminister. „Für jede Notsituation wird es am Ende nicht ganz ohne Ermessen gehen – selbst wenn wir das Gesetz ändern.“
Denn momentan dürfen Notfallsanitäter nicht ohne Rücksprache mit einem Arzt eigenverantwortlich heilkundlich tätig werden. Dabei zählt laut DRK Biberach in Einsätzen oft jede Minute.
Ein beispielhafter Einsatz: Blaulicht flackert über die Allee. Mit Sirene und 130 Kilometern pro Stunde rast der Rettungswagen über die Landstraße im schwäbischen Biberach. In einer Tagesstätte für Senioren ist ein Mann kollabiert und kurzzeitig in Ohnmacht gefallen. Mehr weiß Notfallsanitäter Adrian Filser nicht. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, zieht sich blaue Einmalhandschuhe an. Für ihn sei es jedes Mal eine neue Herausforderung, jedes Mal die Ungewissheit, ob alles gut geht – für den Patienten und für ihn.
Der 81-jährige Mann sitzt in einem Sessel, sein Oberkörper hängt zur linken Seite, er wirkt desorientiert. Im Bett neben ihm schläft eine Zimmerkollegin. Sie lässt sich auch nicht stören, als die beiden Sanitäter den Raum betreten. Filser kniet sich neben den Mann: „Wie geht es Ihnen?“ Der 81-Jährige blickt ihn an und versucht, Worte herauszubringen – aber er kann nicht. Ein Helfer vor Ort diktiert Filser die Vitalwerte, die der 22-Jährige auf der Rückseite seines Handschuhs notiert: „Blutzucker: 300 mg/dl“. Verdacht auf Überzuckerung. Für den Diabetiker eine bedrohliche Situation. Er braucht Insulin. Aber Filser darf es ihm nicht geben.
In seiner dreijährigen Ausbildung zum Notfallsanitäter hat er zwar gelernt, Zugänge zu legen. In der Rechtsprechung gelten solche invasiven Maßnahmen aber als Körperverletzung, sagt Filser. Er müsste in diesem Fall zunächst den Vormund des dementen Patienten kontaktieren. Theoretisch zählt auch das Messen des Blutzuckers dazu, da für den Tropfen Blut aus der Fingerspitze die Hautschicht verletzt wird und dies einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. Ein Heilmittel darf er nur in Absprache mit Ärzten und Heilpraktikern spritzen.
Ist der Notarzt nicht vor Ort, muss Filser mit ihm telefonisch Rücksprache halten und die Erlaubnis einholen. Ausnahme: ein lebensgefährlicher Zustand. „Rechtfertigender Notstand“ heißt das in der Fachsprache. Doch was, wenn keine Notsituation vorherrscht, aber es eine werden könnte, wenn der Notfallsanitäter nicht eingreift?
Manchmal liege die Spritze bereit und man wartet auf den Arzt, erzählt Filser. „Dann sitzt du vor dem Patienten, der fast so grau ist wie die Betonwand und weißt, der hat Schmerzen wie ein Gaul, aber du darfst nichts geben.“ In solchen Situationen fühle er sich wie angebunden. „Notärzte fragen, warum nicht eingegriffen wurde: Du kannst das doch, warum machst du es nicht?“, heißt es dann. „Man muss sich jedes Mal rechtfertigen“, erzählt Filser. Die Gesetzgebung müsste schauen, dass die Notfallsanitäter nicht die ganze Zeit mit einem Fuß im Gefängnis stehen.
Die unklare rechtliche Situation müsse durch eine entsprechende Anpassung des bundesweiten Gesetzes klargestellt werden und die Fragen nach dem Versicherungsschutz sollen im Vornherein geklärt werden. Der Bundesgesundheitsminister machte aber keine konkreten Zusagen. CAROLIN GISSIBEL