Warum „Staying alive“ ihr keine Hilfe ist

von Redaktion

Gehörlose Susanna Weber-Kühnlein mit Dolmetscherin bei Erste-Hilfe-Kurs

Wasserburg – „A, a, a, a Staying alive, staying alive“ – wer diesen Klassiker der Bee Gees im Ohr hat, hat im Notfall auch gleich den richtigen Rhythmus für eine Herzdruckmassage parat. Gehörlosen bleibt diese Eselsbrücke verwehrt.

Metronom-App

zeigt den Takt an

Im Erste-Hilfe-Kurs im Betreuungshof Rottmoos, den auch die gehörlose Susanna Weber-Kühnlein besucht, behilft sich der BRK-Ausbilder Mario Bicer mit einer App, die ein Metronom imitiert. So kann Susanna den Taktzeiger beobachten und weiß, in welchem Rhythmus sie die Wiederbelebung durchführen muss.

„Gut, Ihr habt den Patienten nicht getötet.“ Nicht dass die Reanimationspuppe ernsthaft in Gefahr gewesen wäre. Bicer vom BRK Wasserburg ist aber trotzdem froh, dass bei der betrieblichen Ersthelfer-Schulung, die sichtlich nicht ohne Gaudi abläuft, bei den Teilnehmern doch einiges hängen geblieben ist. So auch bei der gehörlosen Susanna Weber-Kühnlein.

Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. Damit die Betreuerin, die seit zwei Jahren am Betreuungshof für hör- und sprachbehinderte Erwachsene in der „Villa Taube“ für das Freizeitangebot zuständig ist, alles versteht, sind die Dolmetscherinnen Marie-Therese Gartner aus Schönberg und Brigitte Pointner aus München da. In Bicers Auffrischungskurs wird es nicht langweilig. In Gruppen erarbeiten die Angestellten der Einrichtungen Szenarien, wie Erste Hilfe bei Schlaganfall, Herzinfarkt oder etwa bei einem verschluckten Gegenstand aussehen sollte.

Die Dolmetscherinnen Pointner und Gartner übersetzen die Lautsprache der anderen Teilnehmer und des Kursleiters simultan. Ein anstrengender Job, der die Frauen sehr fordert, daher wechseln sie sich bei dem achtstündigen Programm alle 20 Minuten ab. Ihren Einsatz bezahlt der Betreuungshof, der dafür wiederum vom Bezirk bezuschusst wird.

„Was machen wir, wenn jemand einen Gegenstand verschluckt hat und keine Luft mehr bekommt? Bitte sagt jetzt nicht ,Luftröhrenschnitt‘“, spricht Bicer in die Runde. Mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter klopfen, oder den „Heimlich-Handgriff“ anwenden, um eine Oberbauchkompression zu erzeugen, so die Vorschläge.

Kinder niemals schütteln

„Was tut man bei einem Kind? Kann man es an den Beinen nehmen und kopfüber leicht schütteln“, will Susanna Weber-Kühnlein wissen. Davor warnt BRK-Mann Mario Bicer. Gerade bei kleinen Zwergerln drohe beim Schüttelsyndrom eine frühkindliche Hirnschädigung. „Ein Baby sollte man auf den Bauch drehen, leicht zwischen die Schulterblätter klopfen und ansonsten die Wiederbelebung durchführen. Die Kompression führt in der Regel zum Erbrechen“, lautet sein Tipp.

Für die freundschaftliche Atmosphäre sind die Teilnehmer dankbar. „Er nimmt uns die Angst, Erste Hilfe zu leisten, wenn sie gebraucht wird“, sagt Weber-Kühnlein, die aus Ebersberg nach Wasserburg pendelt, über den charmanten Sanitäter. Gartner übersetzt für das Gespräch mit der Wasserburger Zeitung. Für Mario Bicer, der den Betreuungshof Rottmoos kennt, war es eine Premiere, mit einer gehörlosen Teilnehmerin zu arbeiten.

Gerade bei der Übung der Herzdruckmassage an der Puppe stellt sich Bicer rasch auf sein Gegenüber ein. „Bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung kann man sich orientieren am Rhythmus von den Songs ,Staying alive‘ von den Bee Gees oder etwa ,Atemlos‘ von Helene Fischer und dann 30-mal auf den Brustkorb drücken. Dann hat man die ideale Frequenz“, erläutert der Ausbilder.

Mit diesem Rat kann Teilnehmerin Susanna natürlich nichts anfangen. Sie ist von Geburt an gehörlos. Bicer ruft am Handy die Metronom-App auf. So kann Susanna den Takt des 70er- Jahre-Klassikers „fühlen“. Mit Blick auf Dolmetscherin Gartner, die ihr die Anweisungen übersetzt, legt die 58-Jährige los.

Dass ein Defi mit Sprachansage bereit liegt, hilft Susanna auch nicht. Sie kritisiert, dass meist nur die älteren Geräte eine Laufschrift haben, die die einzelnen Schritte erklärten. „Neue Geräte haben das häufig nicht, das ist ein Nachteil für uns Gehörlose“, sagt sie nach der Übung. Generell gebe es in Wasserburg zu wenige öffentlich zugängliche Defibrillatoren; der im Rathaus sei „total versteckt“.

Im Alltag kommt diese Frau gut zurecht. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert Kühnlein macht sie Theater für Gehörlose. Ihr Gatte, Kühnlein, gibt bei der VHS Gebärdensprachkurse für Anfänger. Am Donnerstag, 6. Juni, um 19 Uhr findet im Jujhars‘s, Palmanostraße 1, in Wasserburg wieder der Gebärdenstammtisch „Tanzende Hände“ statt.

In Rottmoos dolmetscht sie auch mal zwischen Betreuern und den Bewohnern, die selbst gehörlos sind und die Gebärdensprache nicht so gut beherrschen, oder gar eine veraltete Grammatik benutzen, weil sie selbst ein hohes Alter erreicht haben. Sie schmunzelt. Auf Nachfrage erklärt sie, manche Gebärden seien quasi aus der Zeit. Wie altdeutsche Schrift zu lesen? Genau, sagt Susanna.

Sie sei mit einer zehn Jahre älteren Schwester aufgewachsen, die auch gehörlos ist. „Von ihr hab ich die Gebärdensprache gelernt. Unsere Eltern waren hörend. Es war toll, dass ich mit meiner Schwester so kommunizieren konnte, das hat uns zusammengeschweißt“, erinnert sie sich. Als ganz normales Kind sei sie in Freising aufgewachsen, die Eltern förderten die Mädchen, die die Gehörlosen-Schule in München besuchten.

Ablehnung des Cochlea-Implantats

Susannas 16-jähriger Sohn ist auch gehörlos. Auf Nachfrage, ob sie oder er für ein Cochlea-Hörimplantat (ein Hörsystem für Menschen mit starker bis hochgradiger Hörminderung. Es wandelt Schall in elektrische Signale um und leitet diese direkt an den Hörnerv weiter; Anm. d. Red.) infrage kommen, schüttelt sie vehement den Kopf. Sie lehne das Implantat ab.

Erinnerung an Euthanasie in NS-Zeit

Gebärdensprache ist meine Muttersprache. Ich kann mir nicht vorstellen, sie nicht mehr zu nutzen. Die Kultur der Gehörlosen ist wertvoll“, so lautet ihre Überzeugung. Das medizinische Ausmerzen der Gehörlosen erinnere sie an die „dunkle NS-Zeit“, mit Euthanasie und Zwangssterilisationen.

„Die Gesellschaft macht mich behindert. Ich sehe mich nicht als behindert.“ Ihr Sohn könne sich später entscheiden, ob er implantiert werden wolle. „Ich liebe ihn dann genauso. Aber nach seiner Geburt hab ich mich entschieden, dass das Implantat nicht der richtige Weg ist.“

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