70 Jahre Freie Wähler – das ist ein stolzes Jubiläum. Im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen blickt Vorsitzende Christine Degenhart auf die Geschichte, Erfolge und Herausforderungen der Partei.
Freier Wähler ist heute nicht mehr gleich Freier Wähler. Die einen sträuben sich nach wie vor vehement, Teil einer Partei zu sein. Für die anderen geht es nicht mehr ohne. Für einen Außenstehenden ist es schwer, da noch den Überblick zu behalten. Als was verstehen Sie die Freien Wähler?
Christine Degenhart: Was uns alle gleichermaßen auszeichnet, ist sicher die Verwurzelung in den Kommunen. Nach dem Krieg herrschte eine Parteimüdigkeit, die Bürger schlossen sich pragmatisch und teils nur projektbezogen zusammen, um kommunale Fragen zu lösen. So sehen wir uns in Rosenheim noch heute; allerdings mit einem starken Faktor der Kontinuität und der Stabilität – wären wir denn sonst 70 Jahre alt geworden?
Die genaue Bezeichung für die Freien Rosenheim Stadt lautet: Freie Wähler/UP Rosenheim. Warum ist das so?
Die UP – Unabhängige Parteifreie Wählervereinigung e.V., so lautete der offizielle Name – war eine jener Gruppierungen, die sich nach dem Krieg ohne Parteizugehörigkeit in die Entwicklung der Stadt eingebracht hat. Gleichgesinnte Verbindungen gab und gibt es in vielen Kommunen, sodass man sich zusammenschloss, unter dem Dachverband der Freien Wähler. Den Namen UP behielt man bei und ergänzte ihn nur durch die FW, so nennen wir uns noch heute FW/UP.
Unabhängige Sachpolitik gehört seit jeher zum programmatischen Kern der Freien Wähler, aber wie unabhängig sind die Freien Wähler heute noch tatsächlich?
Unabhängigkeit ist und bleibt unser Markenkern. Unsere Mitglieder, besonders natürlich unsere Stadträte, tragen seit 70 Jahren mit Herz und Verstand dazu bei, dass zahlreiche kommunalpolitische Aufgaben zum Wohle der Bürger und der Stadt gelöst werden können. Mit dieser Einstellung gehen wir auch ins achte Jahrzehnt, damit unsere Stadt weiterhin liebens- und lebenswert bleibt.
Wirkt sich der jüngste Erfolg auf Landesebene auch auf die Freien Wähler in Rosenheim aus?
Wir sind stolz! Denn durch einen engagierten Wahlkampf haben auch unsere Mitglieder zu dem Erfolg beigetragen, den wir jetzt feiern dürfen. Kommunalpolitisch werden wir durch diesen Erfolg auch viel besser von den Bürgern wahrgenommen. Und in der täglichen kommunalpolitischen Arbeit erleben wir die Freien Wähler im Landtag und in der Regierung nun endlich als Entscheider: Das hilft uns selbstverständlich sehr! Kommunikation ist alles – ein guter Draht zu den Ministern sowie zur Fraktion zahlt sich aus.
Ist es schwer, Nachwuchs zu finden?
Aktuell werden wir durchaus von jüngeren Bürgern auf unsere Arbeit angesprochen. Grundsätzlich aber würden wir uns eine größere Nachfrage wünschen, wir unterscheiden uns diesbezüglich kaum von anderen Vereinen. Dabei ist Kommunalpolitik durchaus spannend und im Gegensatz zur Politik auf Landes- oder Bundesebene sind Erfolge direkt sichtbar und erlebbar.
Was unterscheidet die Freien Wähler Rosenheim von den anderen Stadtrats-Fraktionen?
Unsere Fraktion besteht aus fünf Personen, die ein sehr breites Spektrum unserer Stadtgesellschaft abbilden: Unternehmer, Freiberufler sowie ein Angestellter nehmen die Anforderungen an die Politik – auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Professionen – sehr breit gefächert wahr. Entsprechend läuft unser Meinungsbildungsprozess ab: Wir ringen um sachorientierte Lösungen und können dadurch nie in eine ideologische Schublade gepackt werden.
Mit Schmunzeln sehen wir unsere Einigkeit, die nicht immer ganz streng durchzuhalten ist: fünf Freie eben!
70 Jahre Freie Wähler ist auch 70 Jahre Stadtgeschichte. Was waren Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen in den vergangenen sieben Jahrzehnten?
Gebietsreform, Entwicklung Hochschule, Landesgartenschau, Bau des Hallenbads, Bau des Kultur- und Kongresszentrums, Bau der Fußgängerzonen Max-Josefs- und Ludwigs-Platz, Erwerb des Bahnhofareals Nord, Westtangente und Panorama-Schweig, Umsiedlung HPZ, Hochwasserschutz der Stadt
Was haben die Freien Wähler schon erreicht?
– Aktive Unterstützung der Landesgartenschau durch Gründung eines Freundes- und Förderkreises mit Vorsitz Robert Multrus
– Aktive Unterstützung des Rosenheimer Sports durch den damaligen Stadtrat Richard Horner, mit den Erfolgen Hallenbad und Gaborhalle sowie Jugendfreizeitgelände
– Erster Antrag 2002 Bebauungsplan für das Bahngelände Nord
– Radweg Prinzregentenstraße
– Aktive Unterstützung der Städtepartnerschaft mit Ichikawa,
– Aktive Unterstützung für die Fairtrade-Stadt Rosenheim durch Dr. Beate Burkl
…und vieles mehr!
Wo sind sie gescheitert?
Bislang sind unsere Bemühungen um eine zukunftstaugliche Lösung für den Rosenheimer Norden nicht von Erfolg gekrönt. Ich persönlich empfinde diese scheinbare Handlungsunfähigkeit der Stadt und der Politik als ein Scheitern.
Welche Themen sind Ihnen aktuell wichtig?
Die Stadt Rosenheim muss ihre Eigenständigkeit, ihre Unverwechselbarkeit behalten. Sie darf kein Vorort von München werden. Diese Sorge ist nicht unbegründet, denn Rosenheim ist von jeher eine Pendlerstadt. Das Ziel muss also sein, Arbeiten und Wohnen örtlich wieder besser zu verbinden. Hier stößt die Stadt aufgrund ihrer geringen Fläche immer wieder an Grenzen, will man nicht wertvolle Grün- und Erholungsflächen in Frage stellen. Zu einer vernünftigen Verkehrsinfrastruktur gehört natürlich auch ein vernünftiges Mobilitätskonzept. Diesem Gedanken wollen wir Rechnung tragen, indem wir ÖPNV und Radverkehr stärker fördern und besser strukturieren.
Wo geht es in Zukunft für die Freien Wähler Rosenheim hin?
Das hängt nicht nur von uns ab, sondern auch von den Bürgern! Wir wünschen uns von ihnen, dass sie durch einen kontinuierlichen Austausch unsere Politik mitgestalten. Dazu bieten wir einmal im Monat einen kommunalpolitischen Stammtisch an, den „Rosenheimer Ratsch“, der für alle Bürger offen ist und Raum für Wünsche, Probleme oder Sonstiges bietet. Wir greifen dort schwerpunktmäßig aktuelle Themen der Stadtpolitik auf, und diskutieren Lösungen oder Meinungen mit Fachleuten und Bürgern.
Wo sehen Sie unsere Stadt in 50 Jahren?
Unsere Stadt zeichnet sich weiterhin durch eine einmalige Lage aus, was sowohl Freizeitaktivitäten wie auch Verkehrsanbindungen betrifft. Sie bleibt Mittelpunkt einer Region, in der andere gerne Urlaub machen. Unser ganzes Bestreben ist es, Rosenheim so lebens- und liebenswert zu erhalten, wie es jetzt ist: Die Stadt wird ihren Charme behalten, da sind wir uns sicher! Im Zuge der Digitalisierung werden viele der heute sehr belastenden Verkehrsprobleme deutlich gemildert sein. Das Bahnhofsareal ist auf beiden Seiten der Gleise ein attraktives Wohn- und Arbeitsquartier. Das Sommerfestival bleibt den Bürgern ebenso erhalten wie das Herbstfest.
Interview: Karin Wunsam