Man liest diese Artikel und bleibt fassungslos zurück. Immer wieder wird berichtet, dass Frauen erst im Moment der Entbindung realisieren, dass sie schwanger sind beziehungsweise waren. Wie kann das sein? Wie kann eine Frau nicht merken, dass sie schwanger ist? Wie kann das Umfeld nichts mitbekommen, der Partner? Es gibt diese Fälle wirklich. Einer wurde gestern Abend im „Tatort“ mit Maria Furtwängler beleuchtet. Ein 15-jähriges Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, sehr stark gespielt von Lilly Barshy, verdrängt den Umstand, dass sie ein Kind erwartet – bis sie eines Tages entbindet, unwürdig auf der Toilette einer baufälligen Sporthalle.
Julija, so ihr Name, ist eine Erfindung der Drehbuchautoren. Ihre Geschichte ist aber kein Einzelfall, wie Prof. Dr. Anke Rohde weiß. Sie hat seit 1997 die Professur für „Gynäkologische Psychosomatik“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne und stand dem „Tatort“-Team als Beraterin zur Seite. „In Deutschland gibt es jährlich etwa 1600 nicht oder erst spät wahrgenommene, sogenannte verdrängte Schwangerschaften“, erklärt Rohde. „Wir sprechen da von negierten Schwangerschaften, weil es unterschiedliche Ausprägungen gibt – von der bewussten Verheimlichung bis zur absoluten Überzeugung, nicht schwanger zu sein.“
Sie selbst kenne eine Frau, die anfangs sogar einen Schwangerschaftstest gemacht, dann die Schwangerschaft aber wieder verdrängt habe. „Als die Wehen einsetzten, hat sie sich von ihrem Freund noch Tabletten geben lassen, weil sie einen Magen-Darm-Infekt vermutete.“ Die Frau sei Abiturientin gewesen, „eine intelligente junge Frau“, so Rohde.
Was sind die Gründe dafür, dass eine Frau ihre Schwangerschaft negiert? „Das hat immer etwas damit zu tun, ob die Schwangerschaft für die Frau ein unlösbares Problem darstellt oder ein lösbares. Wenn es etwas ist, was nicht sein darf, dann kann das auch nicht sein. Das ist ein psychischer Schutzmechanismus, wodurch eine Erkenntnis, die nicht verarbeitet werden kann, zur Seite geschoben wird, damit man sich damit nicht auseinandersetzen muss.“ Das gehe so weit, dass selbst die körperlichen Veränderungen, die mit einer Schwangerschaft ja nun mal einhergehen, verdrängt werden. Julija sagt im Film: „Ich dachte, ich habe einfach nur Bauchschmerzen.“ Das sei ganz typisch, meint Rohde.
Was ist mit den Partnern beziehungsweise. Vätern? „Das sind fast immer Männer, deren Verhalten man kaum nachvollziehen kann“, so Rohde. „Die haben eine Woche vor der Entbindung Sex mit ihrer Freundin und bemerken nicht ihren dicken Bauch. Da fehlt komplett die Aufmerksamkeit für die Frauen. Diese Männer haben ein Scheuklappensyndrom.“
Wie gehen die Mütter mit ihren Kindern um, wenn sie dann auf der Welt sind? „Manche Frauen, die eine Schwangerschaft wirklich nicht oder erst spät bemerkt haben, nehmen das Kind nach der Geburt ohne Probleme an“, erklärt Rohde. Es gebe aber auch Fälle, in denen ein Kind zur Adoption freigegeben wird. Und: Einige Frauen setzen ihr Neugeborenes aus. „Sie legen es irgendwo ab, damit es in gute Hände kommt“, sagt Rohde. „Dabei kann das Baby aber zu Tode kommen, etwa durch Unterkühlung oder weil es nicht entdeckt wird.“ Im schlimmsten Fall werde das Baby von der Mutter selbst getötet. Jährlich passiere das etwa 20 bis 40 Mal.
„Es gibt junge Frauen, die zu Hause ein Kind zur Welt bringen, während im Nachbarzimmer der Partner sitzt. Die Frauen machen sich nicht bemerkbar, weil sie so große Angst vor der Entdeckung haben. Wenn das Kind schreit, soll es zur Ruhe gebracht werden, und dann wird eben ein Kissen auf das Gesicht gelegt, bis es erstickt. Das ist eine ganz klassische Konstellation, die aus Panik und Hilflosigkeit heraus entsteht. In den seltensten Fällen will die Mutter das Kind tatsächlich töten.“ Hilfe bekommen Betroffene etwa unter geburt-vertraulich.de oder telefonisch unter der Nummer 0800 / 4 04 00 20.