Schon im Kino war „Ü 100 – Das Geheimnis der Hundertjährigen“ ein Erfolg. Heute um 22.45 Uhr läuft die ebenso beeindruckende wie berührende Dokumentation von Dagmar Wagner im BR Fernsehen. Unsere Zeitung sprach mit der Autorin.
Frau Wagner, wie haben Sie die Protagonisten Ihres Films gefunden?
Die ersten habe ich über private Kontakte gefunden. Als der Bekanntenkreis ausgeschöpft war, habe ich einen Aufruf in der Zeitung gestartet, woraufhin sich vor allem Kinder und Freunde von Über-Hundertjährigen gemeldet haben.
Und dann hatten Sie die Qual der Wahl?
Nein gar nicht. Ich habe streng nach Eingang sortiert und bewusst auf ein Casting oder etwas in der Art verzichtet. Ich hätte einem Über-Hundertjährigen nicht sagen wollen, dass er es nun doch nicht in den Film geschafft hat – aus welchen Gründen auch immer. Das kam für mich nicht infrage. Also habe ich die ersten acht genommen, die sich meldeten und dann auch mitmachen wollten.
Wie fällt Ihr Fazit aus? Was ist diese „Ü 100“ für eine Generation?
Pauschalisierungen sind immer schwierig, das sage ich gleich vorweg. Aber was mir aufgefallen ist bei den Interviews, die ich geführt habe: Keiner jammert.
Worauf führen Sie das zurück?
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht liegt es daran, dass diese Generation durch viel Schweres gegangen ist. Sie hat zwei Weltkriege erlebt. Da erscheint einem der normale Alltag vielleicht nicht mehr so beschwerlich. Es kann aber auch sein, dass diese acht Menschen einfach Typen sind, die von sich aus nicht zum Jammern neigen – vielleicht sind sie genau deshalb überhaupt erst so alt geworden? Kurzum: Ich würde mich nicht trauen, da eine eindeutige Antwort zu geben und zu sagen, die Generation „Ü 100“ ist so und so und das aus diesen und jenen Gründen. Was man aus der Forschung allerdings weiß: Es ist durchaus genetisch angelegt, wie gut – oder eben weniger gut – man durch schlechte Zeiten kommt. Interessant ist auch, dass es unter Hundertjährigen fast keine Fälle von Demenz gibt. Und nur ein Fünftel dieser Generation leidet unter starken geistigen Beeinträchtigungen.
Sonst wären sie gar nicht so alt geworden?
Ja, genau.
Gerade die Frauen in Ihrem Film wirken sehr mit sich im Reinen. Sind sie auch stärker?
Man schreibt es den Frauen ja grundsätzlich zu, dass sie stärker sind als die Männer. Ich wäre damit eher vorsichtig. Was aber stimmt: Die Frauen dieser Generation sind mit sehr viel Würde alt geworden. Und der Satz „Wahre Schönheit kommt von innen“ ist sowieso die reine Wahrheit, die sich an alten Menschen noch mal deutlicher manifestiert.
Woran liegt das?
Ich glaube, wenn es jungen Frauen schon im Alter von 15 oder 20 Jahren wichtig ist, dass sie immer im Fokus der Attraktivität für Männer stehen, dann werden sie mit 30 auch eher ihre Falten zählen. Ich will das gar nicht werten. Aber ob diese Frauen, die sich womöglich täglich ihre Defizite vorbeten, gerne älter oder sogar alt werden, ist eine andere Frage. Unsere Frauen im Film sind ein tolles Beispiel gerade für junge Zuschauerinnen. Die hadern wenig mit sich, sondern nehmen das Leben, wie es ist.
Ist das dann auch das Rezept für das Glück der Hundertjährigen? Oder haben die alle am Ende nur gesund gegessen?
Nein. (Lacht.) Das hohe Alter ist vor allem dadurch geprägt, dass die kleinen oder großen Gebrechen, die Einschränkungen akzeptiert werden. Dass man damit nicht hadert, sondern das Positive sieht. Das ist bei vielen übrigens die Familie.
Der Umstand, dass man nicht alleine ist?
Ja. Meine Protagonisten waren in ihrem Leben nicht einsam. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt bei der Langlebigkeit. Und sie fühlen sich dabei gar nicht alt. Das war bei der Hundertjährigen Ruja Diebold sehr ausgeprägt. Sie hat immer gesagt: „Ich fühle das Alter nicht. Ich fühle es physisch, aber nicht seelisch.“ Sie hat sich bis ins hohe Alter sehr lebendig gefühlt.
Die Angst vorm Sterben ist dadurch nicht sehr präsent.
Der Tod ist keine Bedrohung mehr für Hundertjährige. Sie haben keine Angst zu sterben. Aber sie haben natürlich Angst vor dem Wie.
Was haben Sie aus den Gesprächen mit den Hundertjährigen gelernt?
Eine Stunde mit einem Menschen, der so alt ist wie die Menschen aus meinem Film, ist für mich wie ein Tag Urlaub. Wenn man mit Hundertjährigen zusammensitzt, erlebt man das pure Sein. Denn Menschen in diesem Alter müssen sich durch nichts mehr aufpeppen, sich besser machen als sie sind. Das zu erleben ist ein großes Glück. Und ich habe noch etwas gelernt: Je mehr offene Baustellen es in einem Leben gibt, desto schwerer ist der Abschied. Man kann den Film in diesem Sinne schon als Appell verstehen, sein Leben mit so wenigen Baustellen wie möglich zu leben.
Das Gespräch führte Stefanie Thyssen.