Die Schatten von Eau Rouge kann auch die norditalienische Sonne im Spätsommer von Monza nicht kaschieren. Die majestätischen großen Laubbäume im königlichen Park vor den Toren Mailands werden am Wochenende des Großen Preises von Italien wie Mahnmale wirken und den Homo sapiens daran erinnern, wie klein und machtlos er doch ist, wenn die Natur ihre physikalischen Gesetze erbarmungslos anwendet – allen wissenschaftlichen Errungenschaften des Menschen zum Trotz.
Der Tod des erst 22 Jahre alten französischen Rennfahrers Anthoine Hubert vergangenen Samstag in Spa ist immer noch präsent in den Köpfen, Herzen und unterbewusst den Seelen der Rennfahrer dieser Generation verankert. Die Kids, die mit Computern aufgewachsen sind, die realistisch alle möglichen Arten von Aktion neu simulieren können, wissen jetzt: Eins können sie nicht. Das wahre Leben simulieren, mit seinen Gefühlen, seiner Liebe, seiner Trauer und dem Tod, der in der virtuellen Welt nicht vorkommt.
Der Tod Huberts war für die meisten jungen Kerle deshalb auch ein Erwachen aus einem rosaroten Traum, der sie bisher wie ein schützender Wattebausch umgab. In fast allen Gesichtern in Spa stand geschrieben: „Wir können verdammt noch mal sterben bei dem, was wir tun.“
Ich habe das schon einmal erlebt. Damals am ersten Mai-Wochenende 1994 in Imola. Mit dem Unterschied: Ich war selbst noch ein junger Kerl, hatte das Alter der Vettels und Hamiltons von heute und musste mich mit der brutalen Realität auseinandersetzen. Sie kam so schnell und unerwartet wie ein Blitz, der plötzlich eine feuchtfröhliche Schulfete trifft. Ich war ein junger Journalist, der mit den deutschen Stars Heinz-Harald Frentzen und Michael Schumacher zusammen groß geworden war. Wir waren mehr Kumpels als Arbeitskollegen, wir zogen in Köln zusammen um die Ecken, und in allem, was wir taten, war immer klar: Das Leben ist ein Abenteuer, das Leben ist ein weißes Blatt, das wir nur noch füllen müssen, das Leben ist schön und sicher. Tödliche Unfälle in der Formel 1 waren so weit weg wie die brutalsten Schlachten im Zweiten Weltkrieg – man wusste zwar davon, aber sie hatten keinen Zugang zu unseren Seelen. Mit diesem Gefühl fuhren wir nach Imola. Dort dann: Rubens Barrichello hatte einen Horrorunfall. Sein Jordan wurde in die Luft geschleudert, er landete brutal auf einem Reifenstapel. Vom Eindruck her hätte Barrichello auf der Stelle tot sein müssen. War er aber nicht. Er hatte Verletzungen am Arm und eine gebrochene Nase. Einen Tag später war er wieder auf der Rennstrecke. Der Brasilianer war für uns ein weiterer Beweis für die Unverwundbarkeit. Ein weiterer Beweis, wie sicher die Formel-1-Autos der damaligen Zeit waren.
Der Einzige, der wirklich geschockt war, war Ayrton Senna. Der Superstar der Szene, der Erzengel der Formel 1, wirkte angeschlagen, seelisch zerzaust, als hätte er als Einziger verstanden, dass der Unfall seines Landsmanns nicht die weitere Bestätigung für die Unverwundbarkeit war, sondern eine Warnung höherer Mächte.
Am Tag darauf verstand ich, was Senna meinte. Roland Ratzenberger prallte mit seinem Simtek mit 300 Stundenkilometern in die Mauer. Sein Kopf hing schlaff im Cockpit, als das Auto ausrollte. Ungläubig schauten wir hin, und es war klar: Er ist tot. Das Unterbewusstsein schrie ins Hirn: „Das kann doch nicht sein!“ Aber es war doch so.
Frentzen, mit dem ich mir in Imola ein Zimmer teilte, war völlig aufgelöst. So hatte ich den lustigen, hochintelligenten Freund noch nie erlebt. Er brüllte plötzlich Kameraleute an, die ihn filmen wollten, als er sich im Sauber-Motorhome verstecken wollte. Ratzenberger war einer seiner besten Rennfahrerfreunde, seit sie die Jahre zuvor zusammen in Japan eine Art europäische Wohngemeinschaft gegründet hatten. Frentzen war als Sohn eines Bestatters an den Tod gewohnt, war jeden Tag mit ihm konfrontiert. Diesmal war der Tod in sein Wohnzimmer eingedrungen, das er, so glaubte er, hermetisch vor ihm abgeriegelt hatte. Abends saßen wir in einer kleinen Pizzeria und redeten eigentlich nur Unsinn. Es war unser Weg, sich erst mal mit dem Unfassbaren zu beschäftigen.
Am Sonntag fiel der Erzengel vom Himmel. Ayrton Senna starb in der Tamburello-Kurve, weil ein Teil der Radaufhängung beim heftigen Aufschlag seinen Helm durchdrang. Michael Schumacher, der Sieger des Rennens, weinte bitterlich einsam im Motorhome, als er vom Tod seines Idols erfuhr. Ich glaube heute noch, dass es nicht nur die Trauer war, sondern noch mehr die schockierende Erkenntnis, dass es das Schutzschild der scheinbaren Unverwundbarkeit nicht mehr gab. Die Gedanken, die wohl alle hatten, waren: „Wenn es Renngott Senna erwischen konnte, dann kann es jeden treffen!“
Der kindliche Traum hatte jäh ein Ende gefunden. Schumacher und Frentzen wollten aufhören, beide machten nach einer Woche des Nachdenkens weiter. Aber die jugendliche Unbeschwertheit war bei beiden seitdem nicht mehr da.