Hamburg/München – Früher hatte er „den Scheromm“, so nannte er Jerome Boateng, doch den wollte er nicht mehr. Jetzt schätzt Joachim Löw sehr „den Sersch“. Der seinem badischen Dialekt gerade wieder sehr verbunden wirkende Bundestrainer meint damit Serge Gnabry von den Bayern. In der edlen Spielerauswahl seines Vereins ist Gnabry von der Bank bedroht, im Nationalteam aber nicht. „Der Sersch spielt. Bei mir immer.“ Löw freute sich auf dem Podium der Pressekonferenz im Hamburger Volksparkstadion, wie sein Satz wirkte. Er lachte, alle schmunzelten zurück: Ja, erkannt – die Abwandlung des berühmten Louis van Gaal-Zitats „Thomas Müller spielt immer“.
Bei Löw nach exakt 100 Länderspielen bekanntlich nicht mehr. Zu Beginn des Spieljahres 2019 hat Löw Müller, Boateng und Mats Hummels in den DFB-Ruhestand geschickt – und er ist zufrieden, wie sich die Dinge mit verändertem Personal und dadurch bedingt anderer taktischer Ausrichtung entwickelt haben: „Langsam greifen die Automatismen wieder. Wir haben das gut hinbekommen“, sagt er, und daran beteiligt sei auch „der Sersch. Er hat gute Technik, Zug zum Tor. Der Sersch kann viele Ebenen spielen.“ Löw klingt begeistert vor dem EM-Qualifikationsspiel heute Abend in Hamburg gegen die Niederlande (20.45 Uhr/RTL).
Es ist binnen eines Jahres die vierte Begegnung mit Oranje. Als WM-Verpasser waren die Holländer eben noch belächelt worden, doch in der Nations League zockten sie den Ex-Weltmeister Deutschland ab. In die EM-Qualifikation startete wiederum Löws Team als Sieger: 3:2 in Amsterdam, möglicherweise die Geburtsstunde einer neuen Mannschaft. Jetzt allerdings ist sie gesprengt. Weil Leroy Sané, der schnelle, unorthodoxe Typ vorne, mit seinem Kreuzbandriss fehlen wird, und kurzfristig fällt auch noch der als „Pendler zwischen Mittelfeld und Sturm“ vorgesehene Leon Goretzka aus. Löw hätte es schon lieber gehabt, „wenn ich eine Mannschaft mal für acht, zehn, zwölf Spiele zusammen hätte“. Das ist ihm nicht vergönnt.
Aber für ihn sind einzelne Personalien auch nicht entscheidend. Die individuellen Fähigkeiten der Spieler über alles andere zu stellen, das soll nicht deutscher Stil werden. Im Sommer hat Löw seinen Einflüsterer, den ehemaligen Chefscout Urs Siegenthaler, zur Copa America geschickt und Argentinier und Brasilianer analysieren lassen. „Seine Erkenntnis: Da läuft alles über die Individualität.“
Löw will sie natürlich zulassen – aber in einem klaren Rahmen: „Unsere Mannschaft steht seit acht, neun Jahren für Geschlossenheit, sie lebt von der Raumaufteilung in Offensive und Defensive. Jeder Spieler muss sich an eine Aufgabe halten. Machen wir das nicht gut, spielen wir nicht gut.“
Der Bundestrainer will den Kollektiv-Gedanken implementieren – dennoch werden die Fragen nach einzelnen Spielern immer wieder gestellt. Derzeit nach dem auch unter Bundesligakollegen laut „Kicker“-Umfrage hoch bewerteten Leverkusener Kai Havertz. Noch sieht Löw ihn mehr als einen, „von dem man weiß, dass er was bewegt, wenn er reinkommt“. Er lobt: „Es macht Spaß, dem Jungen zuzuschauen, in seinem Alter hat er auch schon drei Jahre Bundesligapraxis. Er hat die U 21 einfach übersprungen, kam sofort zu uns. Für den findet man einen Platz in den nächsten Jahren.“ Einen festen. Wie für den Sersch.