von Redaktion

VON GÜNTER KLEIN

Wann genau trat Diego Maradona eigentlich in unser Bewusstsein?

Noch nicht jedenfalls 1976, als er als 16-Jähriger in der argentischen Nationalmannschaft debütierte. Auch nicht 1978 bei der WM, denn für die hatte ihn der große Trainer Cesar Luis Menotti, der heute immer noch ein gefragter Fußballphilosoph ist, gar nicht nominiert. Ein Akt der Fürsorge: Menotti befürchtete, ein 17-Jähriger könnte unter den Erwartungen bei einer WM im eigenen Land zerbrechen. Weltmeister wurde Argentinien trotzdem, der Star war Mario Kempes.

In einer Zeit, in der Nachrichten von anderen Kontinenten noch langsam nach Europa transportiert wurden, in der es kein Internet und keine Spartensender gab, sondern nur gediegenes öffentlich-rechtliches Fernsehen, dauerte es, bis das Bild eines außergewöhnlichen Spielers Form annahm. Eigentlich wurde Maradona erst im Januar 1981 sichtbar. Damals fand in Montevideo in Uruguay ein einmaliges Turnier statt, Mundialito genannt, in Deutschland als „Mini-WM“ geläufig. Die deutsche Nationalmannschaft traf auf Brasilien und Argentinien. Bei beiden Gegnern war man gespannt auf die 10: Zico, der ein „weißer Pelé“ werden sollte, und eben Maradona.

Man sah aber wenig von ihnen, denn Bundestrainer Jupp Derwall bot gegen sie jeweils seinen Jüngsten auf: Lothar Matthäus spielte den Kettenhund, er grätschte und foulte Zico und Maradona weg, und obwohl die Deutschen punktlos ausschieden, galt im Fall Matthäus: Ein Star war geboren. Man fand ihn auch ziemlich lustig wegen seines fränkischen Idioms: Zico nannte er „Siggo“, der weiche Name Maradona kam ihm entgegen. Fortan befanden sich der junge Deutsche und der junge Argentinier in einem Fernwettstreit, wer der beste Spieler der Welt werde. 1986 gewann Maradona, als er mit Argentinien gegen Deutschland Weltmeister wurde, 1990 Matthäus, als das Finale andersherum ausging. Sie standen natürlich für unterschiedlichste Entwürfe von Fußball: Matthäus war der dynamische Performer, Maradona das Genie. Sie kamen sich damit nicht in die Quere, der eine respektierte den anderen in seiner jeweiligen Kernkompetenz.

Ab 1982 spielte Maradona in Europa, zunächst beim FC Barcelona neben Bernd Schuster und unter Trainer Udo Lattek. 1984 der Wechsel nach Neapel, wo man ihn bis heute vergöttert. Die WM 1986 erlebte ihn auf seinem Schaffenshöhepunkt, in einem Spiel, dem Viertelfinale gegen England, kam alles zusammen, was die Erinnerung an Maradona sichert. Ein irregulär erzieltes Tor („Es war die Hand Gottes“), ein Skandal, ein Tritt gegen das Fairplay. Drei Minuten später sein Solo übers halbe Feld, das FIFA-Jahrhunderttor.

Man hat damals schon Maradona nicht ausschließlich als Fußballer wahrgenommen. Die ersten Storys wurden publik: Connections in Mafia-Kreise in Neapel, und wenn er im Sommer in Argentinien war, lieferte er Stoff für die Boulevardzeitungen. Mit Schrotgewehr-Schüssen auf einen Fotografen, der ihn zu beharrlich verfolgte. Mit einer Gewichtszunahme von 13 Kilo, die Maradona mit „ausführlicher Verzehr von Grillfleisch“ erklärte.

Man konnte erkennen, dass er nicht die Art Spieler ist, die über den Trainingsfleiß ihre Klasse entwickelt. Unvergessen sein Aufwärmprogramm im Münchner Olympiastadion, als er seinerzeit 1989 mit dem SSC Neapel im UEFA-Cup gegen die Bayern spielte. Ihn interessierte kein Stretching-Programm, er schnappte sich den Ball und ließ ihn zur Musik tanzen; die Schnürsenkel blieben dabei offen.

Überhaupt: In München war er immer großartig. Lothar Matthäus lud ihn kurz vor der EM 2000 zu seinem Abschiedsspiel ein. Eine Sensation, dass Maradona sich unter lauter fitte aktuelle Spieler auf den Rasen stellte. Nach 1994 war seine Karriere abgeschmiert. Erst allgemeines Erstaunen, dass er verschlankt und spritzig zur WM in den USA angetreten war, dann die Ernüchterung: Mit einem Cocktail an Abnehm-Präparaten und Aufputschmitteln wurde Maradona positiv getestet und von der WM ausgeschlossen. Er war ein kranker, ein geschlagener Mann.

Aber immer noch ein Fußballer, wie er 2000 zeigte. Ein füllig gewordener Mann, der nur noch ein paar Meter am Stück laufen konnte. Und dennoch das Spiel beherrschte. Weil er es verstand, vorausahnte, weil ihm kein Ball versprang. Rundum Entzücken im Olympiastadion. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte ergriffen: „Maradonas Abschiedsspiel.“

Maradona wurde noch dicker, er ließ sich den Magen operativ verkleinern, war schlank, wurde wieder dick. Er war zum Drogenentzug auf Kuba, wurde zum Spezi von Fidel Castro. Er wurde in Argentinien Fernsehmoderator und konnte schließlich der Forderung nicht ausweichen: Werde Nationaltrainer.

Im März 2010 gewann er ein Testspiel in der Münchner Allianz Arena gegen Deutschland. 1:0. Er hatte keine näheren Informationen über die DFB-Elf gehabt, er holte Erkundungen ein bei einem Spanisch sprechenden Münchner Journalisten, den er nach dem Sieg dankbar herzte. Kein Begriff war ihm der deutsche Debütant Thomas Müller, den er aus dem Pressesaal der Arena vertrieb, weil er dachte, das müsse ein Balljunge sein. Vier Monate später schoss Müller Maradona und Argentinien aus der WM in Südafrika.

Die WM ist Maradonas letzte Bühne. 2010 hatte der argentinische Verband für Diegos Audienzen ein bierzeltgroßes Pressezentrum auf dem Campus der Universität Pretoria hingestellt – turbulentere Pressekonferenzen gibt es allenfalls im Boxsport. 2018 bespaßte er als Ehrengast der FIFA das Publikum in Russland. In allen Stadien herrschte Rauchverbot – Maradona saß mit Zigarre in der VIP-Loge, verspottete die Gegner, erlitt einen Schwächeanfall. Publicity ist seine Währung, sie erschließt neue Einnahmequellen. Maradona ist jetzt Trainer bei einem mexikanischen Zweitligisten und Vorstandsvorsitzender eines weißrussischen Vereins. Parallel.

Den Argentiniern ist er unantastbar. Man hat es voriges Jahr in Russland gesehen. An den Zäunen der Stadien wurden Fahnen angebracht, die ihn wie einen Heiligen feierten. Es gibt tatsächlich auch eine „Kirche Maradonas“. Undenkbar, dass solche Verehrung einmal auch Lionel Messi erfahren könnte – der genauso komplette, aber viel stabilere Spieler. Aber eben nur ein Spieler. Keine Figur.

Der Film „Diego Maradona“, der nächsten Donnerstag in den Kinos anläuft, soll „ein wilder Ritt in die Fußball-Vormoderne“ sein. Klingt verheißungsvoll. Er soll „mit Maradona versöhnen“. Das ist aber eigentlich gar nicht nötig.

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