von Redaktion

VON GÜNTER KLEIN

Am Samstag sind Deutsche Meisterschaften in Naumburg in Sachsen-Anhalt, ein erster Saisonhöhepunkt – aber eine überschaubare Veranstaltung. Fürs 20 Kilometer-Straßengehen der Männer haben sich 32 Starter gemeldet, für die 10 Kilometer nur sechs.

Sieht man die Listen durch, stößt man auf eine weitere Besonderheit. Im gleichen Wettbewerb wie aktuelle Mitglieder der Nationalmannschaft sind auch Leute über 70 dabei. Der älteste Geher ist Christoph Höhne, 78, eine Berühmtheit. 1968 war er für die DDR Olympiasieger über die 50 Kilometer. Er hat seinen Sport nie losgelassen. Und der Sport ihn nicht. Einmal Geher, immer Geher.

Ein Teilnehmerfeld, hochkarätig besetzt, aber eben klein – typisch Gehen. „Wir haben die Spitze, wir haben die Altersklassenathleten, aber uns fehlt eine zweite Reihe“, sagt Carl Dohmann. Der 28-Jährige aus Baden-Baden ist Deutschlands Bester über die 50 Kilometer, bei der Leichtathletik-EM 2018 in Berlin war er Fünfter, bei der WM im Jahr davor in London Zehnter. Sein Wochenpensum sind „im Schnitt 180, in der Spitze 240 Kilometer“.

Er kann das Problem seiner Sportart exakt benennen: „Wohin geht jemand, der gehen will?“ Gehen wird in Deutschland nicht flächendeckend angeboten, die Leute nehmen lieber an Läufen teil. Die Halbmarathons und City-Marathons boomen.

Wettbewerbe im Gehen? Kaum zu finden. Früher gehörten sie zum Programm von Laufveranstaltungen, doch die Meldungen fürs Gehen gingen zurück. Warum eine langsamere Fortbewegungsart wählen?

Carl Dohmann wählt manchmal auch den Laufschritt. Um für Variation im Training zu sorgen. Dennoch hat er sich fürs Gehen entschieden: „Ich bin der reine Ausdauertyp. Sprinten habe ich nicht so drauf.“ Ihm war klar, dass er richtig gut nur als Geher werden und sein Ziel, eine Olympia-Teilnahme, schaffen würde. Freilich ist sein Gehtempo so hoch, dass er bei einem Marathon die meisten Läufer klar distanzieren würde.

Und nach 42,195 Kilometern ist im Gehen noch nicht Schluss. Die Königsdisziplin sind die 50 Kilometer. „Unser Alleinstellungsmerkmal“, sagt Carl Dohmann, „wir sind die längste Strecke in der Leichtathletik.“ Noch. Ab 2022 nicht mehr. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat eine Reform beschlossen: Zwei Geh-Disziplinen bleiben zwar im Olympischen Programm, doch die Strecken werden andere sein. Bisher waren es 20 und 50 Kilometer, nun sollen die Geher sich aus folgendem Angebot zwei herauspicken: 10, 20, 30 oder 35 Kilometer.

Sie sind damit nicht glücklich. 30 Kilometer sind doch verdammt kurz, wenn man 50 gewohnt war. 35 ist eine dumme krumme Zahl, Carl Dohmann meint: „Wenn es dann wenigstens die Marathon-Strecke wäre.“ Die 42 Kilometer. Mythisch. Man hätte einen Vergleich zu den Läufern, die Welt würde staunen, was Geher für eine Geschwindigkeit entwickeln.

Ronald Weigel, 59, ist Bundestrainer der deutschen Geher. Er war ein Großer auf der Straße: 1983 Weltmeister über die 50 Kilometer, 1992 holte er Olympia-Bronze. Er ist Pragmatiker und findet: Es hätte schlimmer kommen können. Zwar gehört er zu den Unterzeichnern eines Briefes an die Geh-Kommission der IAAF, mit der Bitte, den Fünfziger zu erhalten, doch ihm war die Gefahr bewusst, „dass wir ganz aus dem Olympischen Programm rausfliegen. Es stand auch der 10 000-Meter-Lauf auf der Bahn zur Debatte.“ Sich auf eine kürzere Langstrecke einzulassen, sei besser als nichts. „Im Nachhinein Frust zu äußern bringt nichts.“

Auch Gehen muss mit der Zeit gehen. Immer schon haben Sportarten sich medialen Bedürfnissen angepasst. Carl Dohmann zweifelt aber, ob die Attraktivität durch kürzere Strecken steigt. „Das Fernsehen zeigt ein Rennen doch nie in voller Länge, auch nicht einen Marathon. Es sendet ausschnittsweise.“ Was dem Gehen guttue: „Wenn man es weg von den Stadien in die Städte verlegt.“ Bei der Europameisterschaft in Berlin war das großartig: Die 20 Kilometer rund um den Breitscheidplatz mit der markanten Gedächtniskirche – und Termin Wochenende. Dohmann, der über 50 Kilometer startete, mischte sich bei den 20 unter die Zuschauer: „Ich musste in der dritten, vierten Reihe stehen.“ So voll war es. Voll und stimmungsvoll.

Dass das öffentliche Bild vom Gehen häufig ein negatives ist, liegt an etlichen Dramen, die für Außenstehende schwer nachzuvollziehen waren: Wenn ein Kampfrichter einen Geher von der Strecke nahm, weil der nicht sauber ging. Ein Fuß müsste immer Bodenkontakt haben. Entsprangen Disqualifikationen manchmal der Willkür? Regierte (Verbands-)Politik?

Ronald Weigel sieht inzwischen Objektivität eingekehrt, „die internationalen Kampfrichter sind alle sehr gut ausgebildet. Die guten Geher mit einer Toptechnik werden in der Regel nicht disqualifiziert werden.“ Carl Dohmann ist es schon passiert, dass er rausgezogen wurde aus Wettbewerben von strengen Richtern. Er hielt es zunächst für unangebracht, erkannte bei der Videoanalyse aber: Ja, okay.

Obwohl die Kampfrichter bei den Gehern also nicht mehr das große Konfliktthema sind, will die IAAF etwas ändern: Es soll eine Art Videoschiedsrichter geben, der Geh-VAR sozusagen. Auch dies ein Teil des Reformpakets ab 2022. Die Rede ist von einer elektronischen Einlegesohle, mit der der Bodenkontakt ermittelt werden soll. Man weiß nichts Genaues, es existiert kein Prototyp, angeblich soll in Brasilien was entwickelt werden. Aus Sicht von Carl Dohmann eine Reise ins Ungewisse: Es sei nämlich schon so, „dass es eine kurze Flugphase gibt. Ein paar Tausendstel, bei der man keinen Bodenkontakt hat.“ Wie wird das bewertet, wo liegt die Grenze, wird man dann vielleicht langsamer gehen müssen, als man könnte? Das sind die Fragen. Bundestrainer Weigel weiß auch nicht, was kommen könnte: „Es gibt unterschiedliche Schuhfabrikate. Und es müsste bei den Wettbewerben auch ein System zur Erfassung aufgebaut werden.“ Das würde Kosten verursachen.

Der menschliche Kampfrichter soll trotz VAR bleiben, es muss auch kontrolliert werden, ob das Knie des Gehers durchgestreckt ist. Im Regelbuch ist verankert, dass der Schiedsrichter ohne technische Hilfsmittel und nach Augenmaß entscheidet. Weigel: „Es müsste auch die Regel geändert werden.“

Klar ist: Veränderungen wird es geben im Gehen. Ob sie zur Popularisierung beitragen? Carl Dohmann ist skeptisch: Die Nordic-Walking-Welle hat fürs Gehen auch nichts abgeworfen. Dabei sei Gehen gesund: „Sie haben keinen Aufprall wie beim Laufen, es ist gelenkschonend.“ Dass man sich einen Hüftschaden erwatschle – reines Klischee.

Auch Ronald Weigel will fürs Gehen werben: „Wir gehören zur Weltspitze. Im Marathon sind wir weit davon entfernt.“

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