Indian Wells – Manchmal genügt ein Blick zurück, um zu sehen, wie schnell Dinge in Gang kommen können, wenn die Mixtur stimmt. Vor einem Jahr gewann die Japanerin Naomi Osaka beim Turnier in Indian Wells den ersten großen Titel ihrer Karriere, ein halbes Jahr später folgte in New York Grand-Slam-Titel Nummer eins, weitere vier Monate später bei den Australian Open Grand-Slam-Titel Nummer zwei und seither ist sie die Nummer eins des Frauentennis. „Ja“, sagt Bianca Andreescu, die nun im kalifornischen Tennisgarten mit einem Sieg gegen Angelique Kerber ein ähnliches Kunststück vollbrachte, „das ist wirklich eine Cinderella-Geschichte – wie bei Naomi.“
Bei der in Kanada im Jahr 2000 geborenen Tochter rumänischer Eltern überschlugen sich die Ereignisse innerhalb weniger Monate. 2018 war es Andreescu nach einer Reihe von Verletzungen bei keinem der Grand-Slam-Turniere gelungen, sich für das Hauptfeld zu qualifizieren, doch vom ersten Tag des neuen Jahres an spielt sie, als sei sie von einer Fee mit einem Zauberstab berührt und in eine ganz neue Umlaufbahn geschickt worden. Beim ersten Turnier in Auckland/Neuseeland landete sie als Qualifikantin im Finale (das sie gegen Julia Görges verlor), Ende Januar gewann sie in den USA ein kleineres Turnier, es folgten zwei Siege im Fed Cup für Kanada und danach das Halbfinale beim Turnier in Acapulco; mit 28 Siegen auf diversen Ebenen ist sie die erfolgreichste Spielerin des Jahres 2019.
Und das Finale gegen Angelique Kerber an einem heißen Tag zeigte eindrucksvoll, warum das so ist. Mit ihrer Mischung von dynamischen, kraftvollen Grundschlägen, von Lobs und phänomenalen Stopps und schlauen Finten, von Athletik, Ausdauer, Selbstbewusstsein und Freude an der Herausforderung verbindet sie alle Elemente des Spiels. Wie sehr sie dieses Finale gewinnen wollte, war vor allem in einer Phase zu Beginn des dritten Satzes zu spüren, als ihre Kraft allmählich nachließ, als sie ein Aufschlagspiel verlor und Angelique Kerber den Eindruck machte, als habe sie das Spiel und die fordernde Gegnerin nun im Griff. „Ich will das hier unbedingt“, sagte sie ihrem Coach in der Beratungspause nach dem Aufschlagverlust, und obwohl sich bald die ersten Krämpfe meldeten, fand sie mit dieser Einstellung in ihrer Atemlosigkeit irgendwie die dritte Luft.
Angelique Kerber sagt, es sei ihr trotz der Führung klar gewesen, dass noch lange nichts entschieden war. „Ich wusste, dass das nicht zu Ende ist. Die Chancen, die ich ihr gegeben habe, hat sie genutzt, auch weil sie wusste: Mehr kriegt sie nicht.“ Bei aller Enttäuschung über die Niederlage in drei rassigen, spannenden Sätzen (4:6, 6:3, 4:6) verließ sie die kalifornische Wüste ein paar Stunden nach dem Finale mit der Erkenntnis, nach schwächeren Runden zuvor bei den Turnieren in Doha und Dubai deutlich besser und schwungvoller gespielt zu haben. „Als ich hier abgekommen bin, hab ich nicht damit gerechnet, dass ich im Finale lande“, sagte sie, „deshalb geh ich mit viel Selbstvertrauen in die nächsten Turniere.“ Montagmorgen machte sie sich auf den Weg nach Miami, wo der Tross der Tennisspieler bis Ende März halt macht. In Florida hatte sie in den vergangenen fünf Jahren dreimal das Viertelfinale und einmal das Halbfinale erreicht.
Auch Bianca Andreescu wird in Miami erwartet; ob sie dort tatsächlich spielen wird nach zwei ebenso anstrengenden wie aufregenden Wochen in Kalifornien, wird man sehen. Die Stunden nach dem ersten großen Sieg ihrer Karriere hatten es jedenfalls noch mal in sich. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau gratulierte per Twitter, ebenso Tennis-Legende Rod Laver, der schrieb: „A star is born.“ Sie selbst stand mittendrin im ganzen Trubel und überzeugte auch nach dem letzten Spiel des Turniers mit jugendlicher Frische und einem sehr gesunden, irgendwie charmanten Selbstbewusstsein. „Das war wirklich ne verrückte Reise hier. Vor einem Jahr um diese Zeit hatte ich große Probleme mit meinem Tennis und auch mit meiner Gesundheit. Ich hab bei 25 000-Dollar-Turnieren in Japan gespielt, und jetzt bin ich“ – Pause – „darf ich das F-Wort sagen? Nein, darf ich nicht. Jetzt bin ich der verdammte Champion von Indian Wells.“ Mal sehen, wie diese Geschichte weitergeht; auf den ersten Blick hat sie alles.