Leverkusen – Ein fröhliches Gejohle schwappte von der Leverkusener Seite des Kabinengang in die Interviewzone. Es tönte und dröhnte durch die geschlossene Tür, und draußen gestand Rudi Völler, der Sportdirektor, mit amüsierter Miene, zur Pause hätte er gegen so einen Gegner „auch ein 1:1 unterschrieben“. Wäre in diesem Moment ein Vertreter des FC Bayern zugegen gewesen, hätte er sich arg zusammenreißen müssen. Ein Spiel zu verlieren, das man so fest im Griff zu haben schien, dass sich der Gegner mittendrin schon über den halben Lohn gefreut hätte, diese Erfahrung macht man als Rekordmeister nicht oft.
Entsprechend konsterniert traten sie am Samstag die Heimreise an. Wenn die Bayern am Saisonende Bilanz ziehen, ist es gut möglich, dass diese 1:3-Niederlage eine besondere Rolle einnehmen wird. Nicht nur, weil aus der angestrebten Aufholjagd wieder nichts wurde und ein zwischenzeitlicher virtueller Vier-Punkte-Rückstand auf Borussia Dortmund am Ende auf sieben Zähler anschwoll. Das betrübte den Meister gar nicht mal so sehr. Sportdirektor Hasan Salihamidzic verblüffte mit der steilen These, es sei „nicht viel passiert“. Außer halt, dass der BVB ein eminent schweres Auswärtsspiel deutlich besser hinter sich brachte als der Rivale aus dem Süden. Es seien „noch 42 Punkte im Topf“, rechnete Salihamidzic vor, weil noch 14 Spieltage anstehen. Um exakt diese 42 Punkte einzusammeln, brauchten die Bayern bisher 20 Partien.
Deprimierender ist die Tatsache, dass es sich erübrigt, auf Patzer des Rivalen zu hoffen, solange auf die eigene Mannschaft kein Verlass ist und man dermaßen fahrlässig agiert. Nach Leon Goretzkas Führungstor (41.), dem fast ein zweites durch Robert Lewandowski gefolgt wäre, wenn er sich nicht „mit der Kniescheibe“ (Thomas Müller) im Abseits befunden hätte (45.), erlebten die Bayern einen totalen Kontrollverlust.
Man könne nicht „drei Gegentreffer kassieren und dann noch den Anspruch haben, in Leverkusen zu gewinnen“, rügte Niko Kovac. Sowas funktioniere „nicht mal im Training“. Damit durften sich vor allem jene Bayern angesprochen fühlen, die in der Leverkusener Hälfte für spektakuläre Szenen gesorgt hatten, in der Rückwärtsbewegung dafür umso schmerzlicher patzten. Kingsley Coman zum Beispiel, der von Gegenspieler Weiser selten bis nie zu halten war, dem Verteidiger vor dem 1:2 aber seinerseits nur sehr widerwillig folgte. Oder Joshua Kimmich, den sein Trainer diesmal im Mittelfeld postiert hatte. Dort fiel er nicht immer mit Übersicht auf, dafür mit irritierend viel Gift. Bei einem Bayer-Konter leistete er sich einen Catchergriff gegen den unbeteiligten Kai Havertz (der sich dabei eine Hüftverletzung zuzog und ausgewechselt werden musste) und konnte froh sein, mit Gelb davon zu kommen.
Mit deutlichen Worten nahm der Trainer Mittelfeld und Angriff in die Verantwortung. Jeder habe vorher die klare Anweisung erhalten, „dass er mit seinem Mitspieler mitlaufen muss“. In der Praxis hatte Kovac dann aber den Eindruck, in den vorderen Reihen herrsche die Auffassung, „das werden die Jungs da hinten schon meistern“. Dabei wisse man doch, „dass Meisterschaften hinten entschieden werden. Vorne gewinnst du nur Spiele.“
Es ist nicht so, dass der Trainer, der in Frankfurter Zeiten zurecht für die defensive Stabilität seiner Mannschaft gerühmt wurde, auf dieses Missverhältnis noch nie hingewiesen hätte. Unter der Woche hatte er mehrere Trainingseinheiten dem Umschaltspiel der wieselflinken Leverkusener gewidmet. Dass alle Warnungen ungehört blieben, war nicht die einzige alarmierende Erkenntnis. Auch Salihamidzic’ Beobachtung, man habe sich nach der Pause „den Schneid abkaufen lassen“, hat Sprengkraft. Einen solchen Leistungsabfall kennt man von den Bayern aus besseren Zeiten nicht. Aus der laufenden Saison allerdings schon.
Es ist für den stolzen Mia-san-Mia-Verein ein ungewohnt desillusionierendes Gefühl, sich seiner Sache nicht mehr sicher sein zu können. Nicht in Hoffenheim oder gegen Stuttgart, als aus heiterem Himmel Gegentore fielen, die nur deshalb keinen Schaden anrichteten, weil auf Manuel Neuer und eine wuchtige Offensive Verlass war. Und erst recht nicht in Leverkusen, wo nun eine Serie von sieben Siegen endete, die die Bayern hatte glauben lassen, sich der alten Herrlichkeit wieder anzunähern. 45 Minuten genügten, um diesen Irrglauben zu entlarven. „Wir müssen reden“, forderte Thomas Müller. In diesem Verein bedeutet das erfahrungsgemäß: Es wird ungemütlich.