Bei Standards viel Luft nach oben

von Redaktion

Die Bundesliga kann aus der WM viele Lehren ziehen – Weltmeister Frankreich lieferte das meiste Anschauungsmaterial

München – Markus Brunnschneider fungiert seit seinem Abschluss an der Technischen Universität in München (TU) als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Spiel- und Taktikanalyse des Internationalen Fußball Instituts in Ismaning. Der Sportwissenschaftler und Ergonom hat sich vor allem der qualitativen Spielanalyse verschrieben und ist Dozent des „Hochschulzertifikats Spielanalyst“. Für unsere Zeitung analysierte er die WM – und leitete Trends für die anstehende Bundesliga-Saison ab.

WM-Trend 1: Fokus auf Defensive

Vor allem vermeintlich kleine und spielschwächere Mannschaften haben in Russland einen besonderen Fokus auf die Defensive gelegt. „Sie konzentrierten sich stark auf das sogenannte Abwehrpressing“, so Brunnschneider. „Es fällt auf, dass sich spielstarke Mannschaften wie beispielsweise Deutschland oder Spanien, die generell versuchen, vermehrt über Positionsangriffe zum Torerfolg zu kommen, extrem schwer gegen diese Teams tun. Sie finden wenige Lösungen und zeigen zudem eine hohe Konteranfälligkeit aufgrund von mangelnd organisierter Restverteidigung.“ Das liege daran, dass die spielstarken Teams bei Ballbesitz bereit sind, mehr Risiko in der Restverteidigung zu gehen, sie lassen also mehr Defensivspieler aufrücken, um für mehr Präsenz und Überzahlsituationen im letzten Drittel des Gegners zu sorgen. „Das war ein Risiko, das sich oft als zu hoch erwies“, sagt Brunnschneider. „Exemplarisch ist da die deutsche Mannschaft zu nennen. So rückte Innenverteidiger Jerome Boateng teilweise bis an den gegnerischen Sechzehner auf, Mats Hummels sicherte dann situativ alleine ab.“

WM-Trend 2: Tore durch Standards

Durch den verstärkten Fokus der spielschwächeren, tiefstehenden Teams auf die Defensive waren bei der WM vermehrt Fouls nah am eignen Strafraum zu beobachten. „Außerdem“, sagt Brunnschneider, „ergibt sich durch die größere Dichte an Spielern im und am Strafraum eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für abgefälschte Bälle, etwa bei Distanzschüssen, sodass vermehrt Eckbälle aus diesen Situationen resultieren.“ Diese beiden Beobachtungen könnten laut Brunnschneider neben der Einführung des Videobeweises als Erklärung für die deutlich erhöhte Anzahl an Strafstößen im Unterschied zur WM 2014 dienen. Damals gab es 13 Strafstöße, vier Jahre später nun 28. Gleiches gilt auch für die mehr als doppelt so hohe Anzahl an Eigentoren im Vergleich zu 2014 (11:5). „Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache“, sagt der Analyst: „66 Tore fielen nach Standards. 2014 waren es nur 44.“ Tore im Elfmeterschießen nach Verlängerung zählen nicht. 15 der 32 Teams haben mindestens 50 Prozent ihrer Tore nach Standards erzielt. Und 28 Tore erzielten Verteidiger – 2014 trafen sie nur 17 Mal. „Aus den Zahlen lässt sich entnehmen, dass Standards gute Möglichkeiten zum Kreieren von Toren und Torchancen bieten, vor allem gegen tief stehende Gegner, gegen die aus dem Spiel nur schwer Chancen erspielt werden können“, so Brunnschneider. „Dennoch nutzten viele Mannschaften diese Tatsache nicht genügend aus und legten offenbar keinen besonderen Fokus auf das Training von Standards – das war möglicherweise öfter mal ein entscheidender Wettbewerbsnachteil.“

Fazit 1: Weltmeister Frankreich nutzte die Trends am besten

Die Franzosen legten laut Brunnschneider einen großen Fokus auf eine kompakte Defensive, liefen häufig erst auf Höhe der Mittellinie oder sogar noch tiefer an und kamen dadurch nie in die Situation, einen 0:1-Rückstand aufholen zu müssen. Im Unterschied zu ähnlich tief stehenden Mannschaften verfügen sie aber über enorme Qualitaten im offensiven Umschaltspiel nach Balleroberung, besonders dank Antoine Griezmann und Kylian Mbappé. Darüber hinaus besitzt der Weltmeister die Fähigkeit, bei Rückstand von einer eher defensiven Spielweise auf turbulenten Angriffsfußball umzuschalten, wie nach dem 1:2-Rückstand im Achtelfinale gegen Argentinien. „Des Weiteren sind die Franzosen extrem gefährlich nach Standards“, erinnert Brunnschneider, „im Viertel- und Halbfinale erzielte jeweils ein Innenverteidiger das spielentscheidende Tor.“

Fazit 2: Sicherheit ist das höchste Gut

„Die bei der WM zu beobachtende, vorwiegend passive Spielweise – nicht nur der technisch schwächer einzuschätzenden Mannschaft, sondern beispielsweise auch des späteren Weltmeisters Frankreich – bestätigte eine Entwicklung, die wir bereits in der vergangenen Saison in der Bundesliga erkannt haben. Dieser passive Sicherheitsfußball, bei dem man vorwiegend auf einen Fehler des Gegners spekuliert, führt oft zu dem Eindruck mangelnder Qualität. Dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss, sondern durchaus auch ein intelligentes, taktisches Mittel sein kann, um die Qualitäten der schnellen Offensivspieler bestmöglich in Szene zu setzen, dafür ist Frankreich das beste Beispiel.“

Fazit 3: Bedarf an Kopfballspielern

„Die verhältnismäßig geringe Anzahl an Toren aus dem laufenden Spiel heraus ist ein Beleg dafür, dass sich die Mannschaften durch die fortschreitenden Entwicklungen in der Analyse, unter anderem durch die neu zugelassenen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Tribüne und Trainerbank, immer besser auf den Gegner einstellen und sich dadurch über weite Strecken des Spiels neutralisieren“, sagt Brunnschneider. „Entsprechend hoch ist die Bedeutung der Standards einzustufen. Vermutlich bieten diese Phasen des Spiels derzeit mit das meiste Entwicklungspotenzial. Auch der eine oder andere Bundesligist wird sich eventuell bereits in der Kaderplanung in der Vorbereitung auf die neue Spielzeit Gedanken gemacht haben, den Anteil an potenziellen Kopfballspielern zu steigern.“

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