Wimbledon – Die Sonne ging gerade auf, als Angelique Kerber nach einem Essen in Soho und ein paar Tänzen in einer Bar wieder nach Wimbledon zurückkehrte. Zurück nach Wimbledon, wo sie sich am Tag zuvor den Traum all ihrer Träume erfüllt hatte. Sie schlief ein wenig, zog dann ein Sommerkleid an, heftete den Pin des Clubs auf die rechte Seite des Kleides und passierte die schmiedeeisernen Tore mit einem schöneren Gefühl als jemals zuvor. So ganz, gestand sie ein bisschen später, als sie sich im Fundus des Clubs ein Kleid fürs Champions’ Dinner ausgesucht hatte, könne sie immer noch nicht glauben, dass sie den berühmtesten Tennistitel der Welt tatsächlich gewonnen hatte.
Dabei hatte sich die Welt des Tennis zwei Wochen auf das in schönsten Farben gemalte Ende einer anderen traumhaften Geschichte eingestimmt. Auf die Geschichte einer jungen Mutter, in der immer noch eine mächtige Flamme für dieses Spiel brennt. Sie sei ganz bestimmt noch nicht fertig mit ihrer Karriere, hatte Serena Williams in Wimbledon immer wieder versichert.
Der Blick in ihre prall gefüllte Loge zeigte, in welchen Regionen die schillerndste Spielerin der Welt bisweilen unterwegs ist: Golfstar Tiger Woods, Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton und Modepäpstin Anna Wintour unterstützten sie. In Kerbers Loge war mehr Platz. Wim Fissette, der Coach, wie immer in der Ecke, daneben der Physiotherapeut, in der Reihe dahinter ihre Mutter in einem schlichten grünen T-Shirt neben einer ebenso schlicht aufgemachten Freundin, mit der sie gelegentlich Tennis spielt.
Doch nach dem Finale war es Angelique Kerber, denen die Herzoginnen von Cambridge und Sussex, bürgerlich Kate und Meghan, oben an der Treppe im prächtigen Clubhaus gratulierten. Auf dem Weg zum großen Balkon über dem Haupteingang streckten sich weitere Hände zum Glückwunsch entgegen, dann hatte sie ihren königlichen Auftritt und präsentierte die berühmte Siegerschale mit dem Namen Venus Rosewater Dish auf dem Balkon.
Im Oktober vergangenen Jahres hatte Angelique Kerber gewissermassen die ersten Schritte auf diesem Weg gemacht. Als ihr nach Monaten voller Enttäuschungen, Zweifel, Hader, Frust und Ärger klar geworden war, es müsse sich was ändern. Nein, falsch. Nicht es musste sich ändern, sondern sie musste etwas ändern. Als sie sich schließlich von ihrem langjährigen Trainer und Vertrauten Torben Beltz trennte und den Belgier Wim Fissette engagierte. Bundestrainerin Barbara Rittner, die Kerber fast zwei Jahrzehnte kennt, sagt: „Es war entscheidend, dass sie diesen Mut aufgebracht hat, denn sie hasst nichts mehr als neue Leute um sich herum. Aber dass sie diesen Schritt gegangen ist und belohnt worden ist, das gibt ihr auch etwas fürs Leben.“
Als Fissette den Job übernahm, zeigte er ihr am ersten Tag ein paar Videos der besten Spiele ihrer Karriere. „Videos mit der aggressiven Angie“, wie er sagt, „denn die beste Angie ist eine, die versucht, aggressives Tennis zu spielen.“ Sie gilt als eine der besten Konterspielerinnen der Welt, wenn sie nicht so gar die beste ist, aber mit defensiven Qualitäten allein ist im modernen Tennis kein Blumentopf mehr zu gewinnen.
Und zur Offensive hatte Kerber am Samstag den Mut. „Sie sah überhaupt nicht nervös aus, außer vielleicht im ersten Spiel“, stellte die große Martina Navratilova hinterher fest. Serena Williams lobte: „Sie hat vom ersten bis zum letzten Punkt wirklich stark gespielt. Unglaublich.“ Williams selbst wirkte sichtlich angespannt, sie leistete sich zum Teil abenteuerliche Fehler, und in längeren Ballwechseln hatte sie gegen die schnelle Beine der Konkurrentin kaum keine Chance. Verständlich, nur zehn Monate nach den lebensbedrohenden Komplikationen nach der Geburt von Alexis Olympia. Kerber hingegen zögerte und zauderte nicht; beim Turnier der Turniere, wie sie die Championships später nannte, lieferte sie ein Meisterstück ab.
Es gibt Spielerinnen und Spieler, die angesichts der Anspannung in einem Finale deutlich unter ihren Niveau bleiben, aber dieses Problem hatte Angelique Kerber nie. Wenn sie einmal die Versagensängste der ersten Runden überwunden hat, unter denen sie auch diesmal wieder litt, dann ist sie am Ende oft nicht mehr aufzuhalten. Woher diese Stärke kommt? „Weil ich schon 30 bin. Du brauchst die Erfahrung. Du musst alles überstehen, die guten Sachen wie die schlechten, und daraus musst du lernen.“
Wim Fissette sagt, das sei auch für ihn ein sehr, sehr glücklicher Tag. Was glaubt er, wird seine Arbeit mit der Wimbledonsiegerin, die sich den Traum der Träume erfüllt hat, nun leichter oder schwerer? „Ich werde ihr erst mal ein bisschen frei geben. In ein paar Wochen werde ich dann sehen, ob sie noch mehr will oder zufrieden ist. Aber ich denke, sie will noch mehr.“