Ein wunderbar sonniger Sonntag ist es gewesen, als Helmut Zöpfl neulich zu einem Spaziergang unterwegs war. Sein Weg führte ihn vorbei an vielen Wiesen, durch den Münchner Westpark. „Trotz des schönen Wetters habe ich kein einziges spielendes Kind gesehen“, erzählt der Professor, der bis zu seiner Emeritierung 2003 am Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität gelehrt hat. „Traurig“ findet er das, sehr, sehr traurig. Zöpfl ist 80, in vielen seiner zahlreichen Bücher und Veröffentlichungen hat er sich mit der Bedeutung von Spiel und Sport für eine gesunde Entwicklung der Kinder befasst, meist heiter, manchmal leicht ironisch, auch mal sarkastisch. Wie in seinem Gedicht über die „Bildungsmaschine“, das den Wahn, Kindern, möglichst bereits dem Embryo, immer schneller Wissen einzutrichtern, kräftig auf die Schippe nimmt und in dem Ziel der Wissenschaftler gipfelt, dass dann irgendwann „Geburt mit Abitur zusammenfällt“.
Bewegung nur noch im digitalen Raum
Verloren geht dabei eine Kindheit, die das Kind auch Kind sein, zu einem fantasievollen Menschen werden lässt, mit Kreativität, Empathie, einem Menschen, der nicht Sklave wird seines Smartphones, seines Computers, der Freunde hat in der realen, nicht in der virtuellen Welt, der Spaß findet an Bewegung, an Spiel, Sport und einer offenen, gesunden Lebensweise. Zöpfl sieht vieles von dem, was ihn in seiner Jugend geprägt und sozialisiert hat, auf der Strecke bleiben in einer zunehmend kalten, modernen Gegenwart, in der sich Kinder nicht mehr auf dem Bolzplatz treffen, sondern sich vorwiegend im digitalen Raum bewegen. Und dort halt nur die Finger.
Aber es gibt sie, die Gegenströmung. Die Sportwissenschaftlerin Monika Siegrist arbeitet an der TU München an Konzepten, wie auch der Generation, die man die „digital natives“ nennt, der Spaß an Spiel und Sport erhalten oder zurückgegeben werden kann. Sie sagt: „Als ich Kind war, haben wir nachmittags draußen gespielt. Drinnen haben wir ja nichts versäumt.“ Inzwischen aber hat fast jedes Kind ein Smartphone und ist permanent online. Zu den Folgen des zunehmenden Mangels an Bewegung hat Klaus Bös, ihr Kollege von der Uni Karlsruhe, seit mehreren Jahrzehnten Daten gesammelt. Und die sind drastisch: Innerhalb von 30 Jahren haben sich die Leistungen beispielsweise im Standweitsprung um 14 Prozent verschlechtert, beim Rumpfbeugen können nur noch 53 Prozent der Buben und 33 Prozent der Mädchen mit den Fingern den Boden erreichen, nur 35 Prozent schaffen zwei Schritte beim Rückwärtsbalancieren auf einem drei Zentimeter breiten Band. „Dramatisch“ findet das Bös und nennt weitere erschreckende Zahlen: Zehnjährige Buben sind heute im Schnitt drei Kilo schwerer, 20 Prozent leiden unter Übergewicht, „die Zahl hat sich verdoppelt.“ 7,1 Prozent der Viertklässler sind sogar von Adipositas betroffen, „das ist das größte Problem“, sechs von zehn Kindern können keinen Purzelbaum mehr schlagen.
„Geh’ raus und spiel was“
„Es läuft etwas in die verkehrte Richtung“, Monika Siegrist will zurück zu einer gesunden Lebenswelt für Kinder. Deshalb hat sie in ihrem Institut an der TU das Programm JuvenTUM initiiert, das Bewegung, Spiel und Spaß von Kindern an den Grund-, Mittel und Realschulen fördern soll. Und sie begleitet als Wissenschaftlerin fit4future. Beides geht in die gleiche Richtung, hinter fit4future sieht sie noch mehr Power, weil die Präventionsinitiative der Cleven-Stiftung und DAK-Gesundheit bundesweit bisher 1500 Grund- und Förderschulen erreicht, bis Herbst sollen es 2000 sein. Und große Unterstützung erfährt, auch durch prominente Sportler wie etwa Felix Neureuther.
Neureuther ist in einer sportlichen Familie aufgewachsen. „Wenn das Wetter schön war und ich fünf Minuten im Haus saß, hat meine Mama gesagt: Felix, geh raus und spiel was.“ Für ihn, Deutschlands Slalom-Ass, ist es, so erklärte er in einem Interview mit dieser Zeitung, „eine Katastrophe“, dass Kinder heute bis 15, 16 Uhr in der Schule sitzen, „Sportunterricht gibt es so gut wie keinen und wenn, dann werden die Stunden als erste gestrichen. Auch im Unterricht sollten Bewegung und Gemeinschaftsgefühl eine größere Rolle spielen.“
Das ist auch der Ansatz von Monika Siegrist. Sie hält ausreichende Bewegungspausen für dringend erforderlich, auch die tägliche Sportstunde. „Es geht aber nicht nur um mehr, sondern um qualifizierten Sportunterricht, der alle mitnehmen muss, auch weniger sportliche Kinder.“ Dafür aber bräuchte man eigenes Personal und dafür fehlt das Geld, heißt es aus der Politik. „Aber die Kinder sind doch unsere Zukunft“, hält Siegrist dagegen und fordert mehr Engagement der Gesellschaft, der Eltern. Was daheim versäumt wird, kann die Schule nur bedingt auffangen. „Dort sind Lehrer durchaus gewillt, oft aber überfordert, weil ihnen immer mehr Aufgaben aufgebürdet werden.“ Dabei hätten Studien bewiesen, dass „körperlich aktive Kinder schulisch besser sind“, Sport fördere auch „Achtsamkeit, Wertschätzung, die Kinder erfahren, was sie leisten können, wenn sie üben. Ihr Selbstbewusstsein steigt.“
Mit Projekten wie JuvenTUM und fit4future soll nicht nur mehr Bewegung und damit mehr geistige Fitness, sondern auch Bewusstsein für gesunde Ernährung und damit mehr Wohlbefinden an die Schulen gebracht werden. Ein Umdenken fordert Siegrist, mehr gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema, das eigentlich essentiell sein sollte. „Schließlich geht es um unsere Kinder“, die Schere nämlich gehe inzwischen weit auseinander zwischen den Kindern, die sich noch ausreichend bewegen, die sportlichen Ehrgeiz und Ziele haben, und jenen, die fast völlig untrainiert und träge sind und damit ein hohes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Übergewicht oder Erkrankungen des Bewegungsapparats in sich tragen.
Keiner, nicht Monika Siegrist, nicht Helmut Zöpfl, auch nicht Felix Neureuther, wollen die Zeit zurückdrehen, die Digitalisierung verteufeln, „aber wir müssen die Kinder stark machen für den richtigen Umgang damit“, fordert Zöpfl. Neureuther sagt: „Wir leben in einem digitalen Zeitalter, aber dass Kinder mit Smartphones und Tablets umgehen, kann nicht das Wichtigste sein.“ Von der Politik erwartet er einen „radikalen Schnitt, sie muss dem Thema Sport und Bewegung wieder mehr Bedeutung beimessen“.
Zuhause wird nicht mehr gespielt
Da sind vor allem auch die Eltern gefragt, gerade sie sind die ersten Vorbilder für ihre Kinder. „Sie aber geben oft die Verantwortung an die Schulen ab“, beklagt Siegrist, viel zu sehr seien sie in andere Aufgaben eingebunden, hätten, so das Kind an einer Ganztagsschule ist, kaum mehr etwas mit der Erziehung zu tun. „Wir haben jetzt die erste Elterngeneration, in der viele keine eigene Spielerfahrung mehr haben, es wird zuhause nicht mehr gespielt, dabei ist gerade in den ersten sieben Lebensjahren das Spiel so wichtig.“ Vielfältige Sinneserfahrungen würden damit geschult, man lerne, sich Ziele zu setzen, Probleme zu lösen. „Bei der Erziehung hat in den letzten Jahrzehnten eine starke Veränderung stattgefunden. Die Kinder bekommen nicht nur zu wenig Sport-, sondern auch zu wenig Spielerfahrung. Dabei sind viele Spiele für den Kopf so wertvoll, Memory zum Beispiel ist kognitives Training.“ Und Spiele in der realen Welt, mit echten Menschen, wirklichen Freunden, fördern soziale Kompetenz.
Geht das alles verloren? Zöpfl jedenfalls hat größte Sorgen. So viel hat er geschrieben, so viel erzählt von einer Jugend, in der das Spiel draußen, in der die Bewegung im Freien noch selbstverständlich gewesen war. Und nicht nur Spaß und Lebensfreude, sondern auch eine gesunde körperliche wie geistige Entwicklung gefördert hat. Viel Lob hat er dafür geerntet, aber hat sich was verändert? Heute sieht er viele Kinder statt beim Toben im Westpark nur noch beschäftigt mit Smartphones, vor Bildschirmen, bei Computerspielen. Und manchmal beim Mitfiebern vor dem Fernseher, wenn, wie gerade jetzt, um die Fußball-WM gespielt wird. „Vorbilder sind wichtig“, sagt Monika Siegrist, „aber sie sollten halt auch zu eigenen Aktivitäten anregen.“
Das tut zumindest Felix Neureuther in seiner Rolle als Botschafter für fit4future oder durch seine Initiative „Beweg dich schlau!“. Er sagt: „Wenn ich durch meine Leistungen Menschen zum Skifahren bringe oder ihnen Freude an der Bewegung vermitteln kann, dann ist das mehr wert als jede Medaille.“