Seoul – Was für ein Gefühl muss das sein, wenn man sich in der Haut derer wähnt, die man gerade besiegt hat, bloß drei Jahrzehnte in die Vergangenheit versetzt? „Das fühlt sich irgendwie so an, als wären wir die Deutschen im Jahr 1990“, lachte Hyomin Lee Mittwochnacht ungläubig, aber glücklich in einer Sportbar in Seoul. Gerade hatten ihre Südkoreaner den Weltmeister geschlagen, so wie es 1990 auch der DFB-Elf gegen den damals amtierenden Weltmeister aus Argentinien gelungen war. In jenem Sommer 1990 diskutierten die Deutschen, nach jahrzehntelanger Teilung, über die Wiedervereinigung zwischen West und Ost. „Ein bisschen so ist es jetzt ja auch hier bei uns!“, rief Hyomin Lee gegen taumelnden Jubel an.
Zwar nur ein bisschen, aber immerhin: Während Deutschland mit dem 1:0 damals zum nächsten Weltmeister wurde, schieden die Südkoreaner am Mittwoch trotz ihres 2:0-Überraschungssieges aus dem Turnier aus. Auch beim Thema Wiedervereinigung sind die Unterschiede beträchtlich. In Berlin war 1990 die Mauer schon gefallen, Verhandlungen über den Einigungsvertag standen kurz vorm Abschluss. Auf der koreanischen Halbinsel ist dagegen von Reiseerleichterungen bisher keine Rede. Vor zwei Monaten betrat erstmals ein nordkoreanisches Staatsoberhaupt überhaupt südkoreanischen Boden.
Und dennoch: hochtrabende Zusammenhänge gelten dieser Tage in Korea nicht als vermessen. Hyomin Lee, die in Seoul Deutsch studiert, ist auch nicht die einzige, die sich allzu gern nach Parallelen zwischen Deutschland und Korea bemüht. Zumal dann, wenn Sport eine Rolle spielt. Während der Olympischen Winterspiele von Pyeongchang im Februar, als im Fraueneishockey sogar ein gesamtkoreanisches Team an den Start ging, sprachen sowohl Nord- als auch Südkoreaner vermehrt von Annäherung und Wiedervereinigung. Vor kurzem wurde beschlossen, dass auch bei der Ostasienmeisterschaft im Judo ein gesamtkoreanisches Team antreten werde. Die Fürsprecher solcher Projekte beziehen sich dann immer schnell auf die Erfahrungen der deutschen Teilung, um einen Zusammenhang zwischen Annäherung, Verständigung und Vereinigung zu betonen.
So auch jetzt während der Fußball-WM: Sport und Politik sind nicht mehr auseinanderzudenken. Der südkoreanische Fußballverband kündigte schon kurz vor der WM an, das Turnier gern im Jahr 2030 veranstalten zu wollen, allerdings nicht alleine, sondern gemeinsam mit Nordkorea, China und Japan. Dieser Tage wiederholte Präsident Moon Jae-in das Vorhaben, als er in Russland auf FIFA-Präsident Gianni Infantino traf. Laut der linksliberalen Tageszeitung Hankyoreh sagte Moon zu Infantino: „Als ich dich das erste Mal traf, sprach ich vom Gedanken, dass Süd- und Nordkorea bald zusammen die WM veranstalten könnten. Und das wird allmählich realistisch.“ Infantino soll Unterstützung zugesichert haben, denn so ein Turnier auf gesamtkoreanischem Boden, das könne nur Frieden bedeuten: „Die Vorbereitungen sollten sofort beginnen“, habe der FIFA-Präsident gesagt. „Ich bin da, wenn du mich brauchst.“
Unterdessen könnte der südkoreanische Sieg vom Mittwoch auch in Nordkorea Anklang gefunden haben. Nordkoreanische Flüchtlinge berichten, dass man als Koreaner immer ein koreanisches Team unterstütze. Eine WM in ganz Korea wiederum wäre, abgesehen von den Konservativen im Süden, die jede Kooperation mit dem Norden ablehnen, wohl in beiden Ländern sehr populär.
Am Mittwoch ging der Jubel in Südkorea so weit, dass nach dem Spiel Dutzende Petitionen beim Präsidenten eingingen. Die Spieler sollten endlich vom für alle Männer verpflichtenden Militärdienst befreit werden. „Sie geben uns so viel Hoffnung“, schrieb einer , „wir sollten ihr Talent nicht im Militär verschwenden.“ Waffen auf den Boden und Fußballschuhe an, so ähnlich hat es selbst Moon jae-in formuliert.
In der Sportbar in Seoul dachte auch Hyomin Lee nach, was alles noch möglich wäre: „Wenn wir wirklich die WM kriegen, dann werden wir bestimmt ein Land.“ Man wisse doch aus Deutschland, dass so ein Turnier die Leute zusammenbringe.