Ganz sicher nicht zum ersten Mal ist im Fußball ein Spiel auf diese Art gewonnen worden: Favorit unter Druck gestanden, nahe dran gewesen, sich erneut zu verzetteln, in Rückstand geraten, einen Spieler verloren, und derjenige, der bei einer Bilanz bis zur 94. Minute der Trottel gewesen wäre, schwingt sich in der 95. zum Helden auf. Aber wenn es passiert, ist es immer wieder so, dass es einem den Atem nimmt und dass die Geschichte aufs Neue ihren Zauber entfaltet, als hätte es nie eine ähnliche gegeben. Der Fußball ist schon sehr wirkmächtig.
Hätte man die deutschen Spieler vor der Partie gefragt, wie sie’s am liebsten hätten – die bevorzugte Wahl wäre ein klarer Sieg gewesen. Nervenschonend. Die technische Überlegenheit bestätigend. Souveränität als Antwort auf den Zweifel, den man selbst geschaffen hatte gegen Mexiko. So ein 3:0 wäre, wie Joachim Löw Sätze einzuleiten pflegt, „scho au“ was gewesen. Doch dieses 2:1 in Sotschi, dieser hingezitterte, herbeigesehnte, erzwungene Sieg ist wertvoller. Die entscheidende Szene war nicht, wie der Ball, von Kroos gezirkelt, oben im Eck des schwedischen Tores einschlug, sondern das, was in den Sekunden danach geschah. Ein Jubel, der den gesamten Kader ergriff: Leon Goretzka, ambitioniert, aber noch keine Sekunde im Einsatz gewesen – zelebrierend wie ein Fan. Mesut Özil – erstmals in einem wichtigen Spiel der Ära Löw nur Reservist: aber in der 95. Minute mit der Körpersprache eines glücklich hüpfenden Frosches. Es wurde spürbar: Das Teambuilding, an dem man sich offensichtlich drei Wochen ohne Fortschritt abgearbeitet hatte, funktionierte mit diesem einen Schlag. Gegen den Druck von außen entwickelt sich eine Wir-halten-zusammen- und eine Wir-zeigen’s-euch-allen-Mentalität. Sie war schon 2014 ein Turniertrumpf. Und sie könnte die WM 2018 für das DFB-Team retten. Noch aber ist nicht einmal das Achtelfinale sicher erreicht und wird das Löw-Team die nächste Aufgabe gegen Südkorea seriös angehen müssen. Das Selbstbewusstsein ist nach Schweden wieder da, doch dass es in fehlerhafte Selbstwahrnehmung umschlagen kann, hat die Mannschaft ja kürzlich erst erfahren. Und auch die Konstellation für ein Achtelfinale könnte dramatisch werden.
Es gibt keine Fiesheit, keine Variante, die sich der Fußball nicht ausdenken könnte. Wir verdrängen es halt, wollen es hinter eine Mauer aus Vernunft, Argumenten, Daten schieben – bis zur nächsten Bestätigung von Wahnsinn. Günter Klein