München – In der Nacht auf Sonntag hat Mats Hummels zu seinem Smartphone gegriffen, um der Welt da draußen zu zeigen, wie er sich fühlt. Junge Menschen machen das so. Oft interessiert das höchstens die engsten Freunde, bei Fußball-Stars aber ist das freilich anders. In der Nacht zum Sonntag postete auch Franck Ribery ein Video aus dem Urlaub. Hummels’ Kollege beim FC Bayern fehlt im französischen WM-Kader, unter anderem, weil er mit seinen 35 Jahren zu alt ist. Auf dem Video macht er Klimmzüge. 14 Stück. Da er kein T-Shirt anhat, sieht man, wie imposant sich seine Muskeln spannen. Hummels postete seinerseits ein Foto. Er trägt ein Shirt, er macht keine Klimmzüge, er hängt fix und fertig in einem Stuhl. „Geschafft. Wir leben“, schrieb er zu dem Bild. Mitgenommen sieht er aus. Sehr.
Es war ein hartes Stück Arbeit, bis das deutsche Team bei der WM in Russland angekommen ist – und nebenbei bemerkt hat Hummels nicht einmal gespielt, war aber dennoch fix und fertig nach dem 2:1 über Schweden. So wie er haben sich die deutschen Anhänger gefühlt, sie spielten ja auch nicht, waren aber genauso am Ende. Deutschland ist bei der WM angekommen – kommt jetzt in Deutschland WM-Stimmung auf?
Geschafft. Aber Deutschland sieht fertig aus
Geschafft. Wir leben! Aber Deutschland sieht fertig aus. Das ist neu, das kennt man so nicht. In den Tagen nach dem 0:1 gegen Mexiko hatte sich eine landesweite Depression verbreitet, Angela Merkel und ihre Kollegen können da lange vor sich hin regieren und würden die Seele kaum so tief treffen. Raum wird bei einem WM-Spiel immer relativ, da passt dann plötzlich eine ganze Republik in ein Wirtshaus, zumindest für 90 Minuten. In der Gaststätte des Sportparks Hallbergmoos wurde vor der Partie gegen Schweden etwa gewitzelt, man könne das Trikot der deutschen Nationalelf im Falle einer Pleite ja ganz praktisch gleich nebenan auf den Scheiterhaufen des Johannifeuers werfen. Spaß war das. Galgenhumor. Und, das auch: bitterer Ernst. Zur Pause loderten die Flammen so hoch in den Himmel, fast hatte man den Eindruck, das müssten die Jungs doch auch in Sotschi sehen können.
Die Deutschen haben eine gewisse Lust am Lamentieren entwickelt, am Nörgeln: Regierungskrise, Flüchtlingsdebatte, und das hat auch nicht vor der Fußball-Nationalelf Halt gemacht. In den Tagen vor der Partie gegen Schweden spielte man in der ARD-Satire „Kwartira“ mit diesen Zuständen. Die Zuschauer sollten bei Zitaten erraten, ob sie von einem deutschen Fußballer oder Politiker stammen. „Deutschland steht vor schweren Entscheidungen“, lautete zum Beispiel eins. Geäußert von: Horst Seehofer.
In der Gaststätte in Hallbergmoos hatte zur Halbzeitpause des Deutschland-Spiels die Politik Pause, wie wohl überall in der Republik. Stattdessen wird da vor der Tür geraucht, gemeckert, gegrübelt. Zwei Frauen fassten einen Entschluss, sie kramten ihre Trikots aus den Handtaschen. Zunächst war es ihnen unangenehm, aber nun, in der Stunde der Not, müsse das Motto doch „Jetzt erst Recht“ lauten, fanden sie. Der Kabarettist Ottfried Fischer sagte vor der Partie etwas Interessantes: Die Mannschaft müsse erst einmal in Vorleistung treten, ehe er mitfiebere. Wie leidensfähig ist das Deutschland im Sommer 2018? Und wie sehr willens, zu leiden?
Jetzt geht’s kroos? Vielleicht sind wir fit für einige Klimmzüge
Ein Trikot der beiden Frauen in Hallbergmoos war das neue, brandaktuelle, grüne. Extra geschnitten für weiblichen Formen, farblich frisch, im Geschäft sagten sie, es gab nie ein schöneres deutsches Leiberl. Das andere war das von Philipp Lahm von der WM 2006; Schnitt, Design, alles nicht mehr Up-to-date, es ist ein Geschenk ihres Sohnes, sagte die Dame, der sei rausgewachsen. Rund um die Partie sah man Lahm, wie er am Ufer des Tegernsees saß. Inzwischen trägt er Zivilkleidung, an der WM partizipiert er nur noch vom Ruhestand aus, als Analyst und Botschafter für die EM 2024, die der DFB gerne ausrichten möchte, weil der Verband von einem neuen Sommermärchen träumt, 18 Jahre nach 2006. Aber sind wir nicht alle rausgewachsen, wie er, der kleine Kicker von der FT Gern, der 2006 das erste WM-Tor erzielte und 2014 als Kapitän den WM-Pokal hochreckte?
Nein. Deutschland erfasste ein kollektives Jaaaa, als Toni Kroos traf. Der Matchwinner sagte später, er nehme das 0:1 auf seine Kappe, vermutlich wusste er nicht, wie groß seine Kappe hätte sein müssen, wenn es schief gegangen wäre. Thomas Müller war wie so oft ein volksnäheres Barometer: „Die Schmetterlinge fliegen wieder.“ In Spielermägen wie in denen der Fans. Auf einigen Smartphones leuchtete der Text auf: „Jetzt geht’s kroos!“ Schaun mer mal. Fest steht jedenfalls: Wir leben. Und vielleicht sind wir, wir zuhause und Hummels plus Team in Russland, jetzt sogar fit für ein paar Klimmzüge.