Sotschi – Kameras sind überall, sie sind hochauflösend, sie lassen einen aus dreißig, vierzig Metern in die Augen eines Menschen schauen.
Wie in die von Toni Kroos, nachdem er nach 94 Minuten und 42 Sekunden diesen Freistoß im zweiten deutschen WM-Gruppenspiel gegen Schweden getreten hatte. Man sah diesen Highlight-Moment immer wieder über die in der Fisht-Arena von Sotschi aufgestellten Monitore laufen. Aus der Perspektive des langen Pfostens des schwedischen Tores, wo der Ball zum 2:1 für Deutschland einschlug. Toni Kroos schaute dem Ball nicht nur einfach gespannt hinterher – er versuchte ihn, mit seinem Blick und seinem Willen ins Netz zu lenken.
Ein Kapitel Fußball-Geschichte. Wie das DFB-Team das wahrscheinliche Aus abwenden konnte, das auch das früheste aller Zeiten und das blamabelste gewesen wäre – als Weltmeister, als Nummer eins der Weltrangliste, mit offen formulierten Titelverteidigungs-Gelüsten. Mit einem 1:1 und nur einem Punkt aus zwei Gruppenspielen hätte man sich in die Abhängigkeit von anderen begeben, wäre darauf angewiesen gewesen, dass Mexiko am dritten Spieltag gegen Schweden noch Lust hat, zu gewinnen. Und müsste selbst mit gedrückter Laune ins Spiel gegen Südkorea gehen.
Doch Toni Kroos sorgte für den Augenblick, über den man im Rückblick vielleicht einmal sagen wird, dass es der Turniermoment gewesen war.
Kroos, der Mann, der dabei war, an diesem Spiel zu zerbrechen. Er war eh angeschlagen, der Glanz, der einen viermaligen Champions-League-Sieger umgibt, war verflogen. Gegen Mexiko, beim 0:1, hatte er zu wenig stattgefunden, mit schlichter Manndeckung hatte der Gegner ihn aus dem Spiel genommen. Die Schweden störten ihn nicht so, doch Toni Kroos spielte zunächst einfach schlecht, sein Fehlpass über ein paar Meter, leitete in der 32. Minute das 0:1 ein. „Geht auf meine Kappe“, sagte er, „es war ein Fehlpass, der mir normal nicht passiert.“
Doch er erzielte eben auch das 2:1. Frech, mit einem Freistoß. Um ihn herum alles aufgewühlt, er aber analytisch: „Marco Reus wollte direkt schießen, da habe ich ihm gesagt: ,Davon bin ich nicht überzeugt. Eine hohe Flanke kam auch nicht in Frage, die köpfen die Schweden relativ leicht raus.‘“ Darum: Kroos tippte an, Reus tippte zurück, Kroos schoss – um die Nur-zwei-Mann-Mauer Schwedens herum. Kroos sagte hinterher, nach fünf Sekunden Emotion habe er sich schon wieder Gedanken gemacht: „Wie lange läuft die Nachspielzeit noch? Die Schweden sind einer mehr, sie werden noch lange Bälle spielen.“ Doch es geschah nichts mehr.
„Mir sind auf dem Platz die Tränen gekommen, weil es so geil war“, bekannte Timo Werner. Aus der Kabine berichtete er: „Jeder, der reingekommen ist, hat geschrien, manche konnten gar nichts sagen.“ Manuel Neuer meinte: „Wie wir gefeiert haben, war ein erster richtiger Schritt. Was hier passiert ist, wird eine Wirkung auf die Mannschaft haben.“ Sie hat sich gefunden.
Auch weil sie sich zusammenschließt gegen die Kritik von außen. Toni Kroos formulierte es drastisch: „Wer sich heutzutage zu Wort meldet und was geschrieben wird: Bei mir kommt die vergangenen vier, fünf Tage ein Gefühl rüber, dass es viel mehr Spaß bereitet, schlecht über uns zu reden.“ Er mutmaßt gar, manche daheim („Nicht die Fans auf der Fanmeile“) würde eine deutsche Blamage erfreuen.
„Wir wissen, dass wir viele Fans haben, die vor dem Fernseher sitzen. Aber mehr Hilfe kriegen wir nicht“, sagt Kroos, „es wird uns keiner zum Titel schreiben, das muss von uns selbst kommen.“
Kroos’ Freistoßtor steht nicht als isolierte Aktion da, es vollendete eine zweite Halbzeit des Drucks und der mentalen Stärke, die Gelb-Rote Karte für Jerome Boateng kurz vorher zu verarbeiten. Timo Werner: „Das muss jetzt der Wendepunkt gewesen sein. Wir müssen diese Steilvorlage annehmen und durchs Turnier reiten.“