Moskau – Der Tag danach: Deutschland-Fahnen werden geschwenkt. Junge Leute tragen stolz T-Shirts mit dem DFB-WM-Motto „#zsmmn“ oder das weiße Nationaltrikot und umjubeln den Fußballstar. Die Welt ist noch in Ordnung – an der Deutschen Schule in Moskau.
Philipp Lahm ist zu Besuch gekommen, das war schon länger geplant. Kleine Talkrunde, Autogramme schreiben. Der zweite Termin, den Lahm gestern gehabt hätte, wird abgesagt. Mittags wäre er in Watutinki gewesen, im Quartier der Nationalmannschaft, um die Kollegen von früher zu besuchen und vor den Medien über seine Rolle zu sprechen, als Mitglied der WM-Delegation und als Botschafter für die deutsche EM-Bewerbung 2024. Doch wen würde das aufrichtig interessieren nach einem 0:1 gegen Mexiko, dem deutschen Fehlstart in die WM 2018? Man würde Lahm ja nur zu Aussagen zur aktuellen Situation zwingen wollen. Und den Kontrast aufbauen: Hier der Weltmeisterkapitän von 2014 – dort die, die den Titel nicht verteidigen oder gewinnen können. Die – mögliches Szenario – die Vorrunde nicht überstehen könnten.
Ein paar der Schulkinder fragen aber dann doch das, was auch die Journalisten und die Millionen Interessierten zuhause bewegt. Nämlich: Was nun zu tun sei. Ob Bundestrainer Joachim Löw die falschen Spieler nominiert hat. Und – trickreich – wer denn Lahms Top-Vier-Favoriten auf den Weltmeistertitel sind (Ist Deutschland noch darunter?).
Philipp Lahm weiß, dass alles, was er hier in der Aula sagt, seinen Weg nach draußen findet und gedeutet werden wird, darum bleibt er in seiner Rolle als der deutsche Fußball-Diplomat. „Man kann Joachim Löw vertrauen, er hat Erfahrung und weiß, wie man eine Mannschaft zusammenstellt.“ Und: „Die vier WM-Favoriten sind: Spanien, immer noch Deutschland, Brasilien, Mexiko . . .“ – kurzes Innehalten, damit der Gag ankommt – „und Frankreich“. Statt Mexiko. Also doch: die großen Vier. Und wenn man – abgesehen davon, „dass es ab dem Viertelfinale zwischen den Mannschaften eng wird“ – einen Gegner vermeiden solle, dann Kroatien. „Für mich eine Mannschaft, gegen die ich nie gerne gespielt habe. Talentiert, aggressiv.“
Aber wer denkt jetzt an das, was in der zweiten Turnierphase kommen könnte? Von einem Tag auf den anderen findet sich die Nationalmannschaft in einen Überlebenskampf verstrickt.
Es gibt die rechnerische Seite: Sie sollte ihre Spiele gegen Schweden und Südkorea gewinnen. Beiden Gruppengegnern ist sie personell weit überlegen. Aber die bessere Ausstattung verpufft, wenn nicht die wesentliche Schwäche abgestellt wird: taktische Unordnung. Von „unserer bekannten Konteranfälligkeit“ spricht Thomas Müller. Und Teammanager Oliver Bierhoff fordert vom Trainerstab um Jogi Löw: „Wenn jedes Gegentor tödlich sein kann, muss man das abstellen.“ Konkret: Bis zum Schicksalsspiel gegen Schweden am Samstag in Sotschi (20 Uhr deutscher Zeit) muss nachgearbeitet werden, was in den zwei Wochen Trainingslager in Südtirol und auch noch nach dem schwachen Test gegen Saudi-Arabien offensichtlich liegen geblieben ist.
Der noch wichtigere Punkt aber wird sein: Bekommt Löw es hin, dass sein Kader eine Mannschaft bleibt oder wird? „Wir werden nicht auseinander fallen“, sagte er schnell nach dem Spiel gegen Mexiko – als spürte er bereits, was würde passieren können.
Einige seiner Weltmeister von 2014 gingen geschwächt aus diesem Spiel, vor allem Sami Khedira, bei dem der mexikanische Spielzug zum Tor seinen Anfang nahm. Thomas Müller agierte sehr unglücklich, selbst zu Toni Kroos und Mats Hummels gibt es Kritisches zu sagen. Das Tempo der Mexikaner war höher, die DFB-Elf wirkte wie in die Jahre gekommen. „Ich denke nicht, dass wir zu alt sind“, sagt Löw.
Der Bundestrainer hat im vorigen Sommer die Verjüngung erzwungen, der Gewinn des Confederations Cups mit einer damals B- bis C-Garnitur war aller Ehren wert – doch aus dieser Konstellation erwachsen Ansprüche der Beteiligten. Im Halbfinale 2017 haben sie Mexiko – mit glücklicher Fügung, zugegeben – 4:1 geschlagen. Die Mittelamerikaner waren sehr ambitioniert aufgestellt, der Sieg über sie hatte Aussagekraft.
Nach der Niederlage zum WM-Auftakt fehlen Löw intern die Argumente, um in jedem Einzelfall seine Weltmeister-Treue zu rechtfertigen. Er hat sich in einer Personalie auch schon verzockt. Marco Reus rutschte heraus, dass der Bundestrainer ihm schon in Südtirol gesagt habe, er werde zum WM-Auftakt noch nicht in der ersten Elf stehen, „weil wir länger im Turnier sein werden“.
Das erscheint auf einmal ungewiss, auch die Spieler benannten den Ernst der Lage, unisono sprachen sie von „Hopp-oder-top-„ und „K.o.-Spielen“, die in der Gruppenphase anstehen.
Der Beobachter Philipp Lahm wertet die Selbstkritik als gutes Zeichen. „Ein kleiner Rückschlag schadet nicht. Hilft der Mannschaft, zusammenzurücken.“ Oder auch nicht.