Im Blick des Kreml

von Redaktion

Russlands Trainer Tschertschessow spielte für Dresden, lernte unter Löw und orientiert sich an Heynckes – Heute gegen Ägypten

Moskau/München – Als sein Handy klingelte, traute sich Stanislaw Tschertschessow nicht, den Anrufer wegzudrücken. Der Trainer der russischen Fußballnationalmannschaft erzählte den Journalisten in Moskau gerade, wie er das furiose 5:0 im ersten Spiel der Heim-WM gegen Saudi-Arabien erlebt hatte. Es gehört zu den Sitten, das Handy in diesen Minuten zu ignorieren. Aber wer hält sich schon an Sitten, wenn Wladimir Wladimirowitsch Putin anruft?

Also verließ Tschertschessow mit Putin am Ohr die Bühne im Pressesaal. Und als er dort ein paar Minuten später wieder auftauchte, meinte er nur: „Der Präsident hat mir seinen Dank ausgedrückt. Wir sollen so weiterspielen, und ich soll dem Team Glückwünsche ausrichten.“ Auftrag erfüllt, vorerst.

Heute steigt Tschertschessow, 54, mit seinen Russen wieder in den Ring. Sie nehmen es mit den Ägyptern auf, die wieder auf Mohamed Salah setzen können, ihren König. Aber nicht nur deswegen hat sich Tschertschessows Job, ohnehin schon der schwerste der WM, noch einmal verkompliziert. Die fünf Tore gegen Saudi-Arabien haben Erwartungen geweckt, in der Bevölkerung, im Kreml. Der Sportminister Pawel Kolobkow posaunte: „Wir erwarten von euch neue strahlende Siege!“ Das ist viel verlangt von den russischen Fußballern, die noch nie in das Achtelfinale einer WM vorgestoßen sind. Und von ihrem russischen Trainer, der in seiner Laufbahn erst zwei Vereine länger als ein Jahr betreut hat: Achmat Grosny aus Tschetschenien und Wacker Innsbruck aus Österreich.

Vor ein paar Tagen noch waren sie sich in Russland daher sehr unsicher, ob Tschertschessow, der Mann mit dem Schnauzbart, überhaupt geeignet ist für das Großprojekt Heim-WM. Im Confed Cup war Russland 2017 bereits in der Vorrunde gescheitert, angeblich überlegte Witali Mutko, damals Sportminister, den Trainer zu feuern, verlängerte sein Mandat aber doch – weil die Alternativen fehlten.

Tschertschessow, früher Profi-Torwart, gab nicht auf. Eine Eigenschaft, die er bereits in Deutschland unter Beweis gestellt hat. Als er 1993 zum Bundesligaaufsteiger Dynamo Dresden wechselte, kassierte er viele Tore, weshalb er, der Nationalkeeper, plötzlich auf die Ersatzbank musste. Der Rückschlag stachelte ihn an, er lernte Deutsch, strengte sich im Training an – und durfte bald wieder spielen. Dresden wurde 13., Tschertschessow von den Fans zum „Spieler der Saison“ gewählt. Obwohl er den Club zwei Jahre später verließ, verehren ihn die Dresdener noch heute.

Im Anschluss an das deutsche Abenteuer spielte der Torhüter ein paar Monate für seinen alten Verein Spartak Moskau, ehe er sich ab 1996 in Österreich einnistete. Sechs Jahre spielte er für den FC Tirol Innsbruck. Ein Trainer von damals ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: Joachim Löw. Den Bundestrainer schätzt er, siezt ihn noch heute. Und doch hat er sich für seine Arbeit in Russland einen anderen Deutschen zum Vorbild genommen: „Ich will spielen wie Bayern München unter Jupp Heynckes: intensiv, vielfältig und doch einfach.“

Einmal ist die Strategie aufgegangen. Der Trainer Tschertschessow aber weiß: Das genügt nicht. Den Fans nicht – und schon gar nicht dem Kreml. christopher meltzer

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