Rostow – Der Superstar hielt am Ende doch noch Hof. Neymar hatte sich nicht seinen Kollegen angeschlossen, die im Pulk aus der Kabine kamen, er gehörte zu den Nachzüglern, vielleicht, weil es bei ihm nicht so schnell ging oder weil er nicht so schnell sein wollte. Er humpelte jedenfalls Richtung Mannschaftsbus, zuerst stark, dann etwas leichter, auf jeden Fall schien es so, als ob er allen sein Leid demonstrieren wollte. Aber vielleicht vor allem sein seelisches, denn körperlich gab er später zu, sei er nicht zu Schaden gekommen. Ein bisschen Schmerzen habe er im rechten Bein gehabt, „nichts Außergewöhnliches, und jetzt sind sie schon vorbei“, sagte er nach dem 1:1 gegen die Schweiz am Sonntag in Rostow.
Die Pein, an der ganz Brasilien seit 2014 zu leiden hat, konnte so ein Auftakt aber nicht lindern. „Das Ergebnis ist kein Desaster“, schrieb die brasilianische Zeitung „O Globo“. Aber es bringe Druck, „den man schon lange nicht mehr gespürt hat“, seit der WM im eigenen Land vor vier Jahren eben. Dabei haben die Brasilianer mit zauberhaften Ballstafetten, und hohem Tempo der Schweizer Defensive zunächst kaum Luft zum Atmen gegeben. Als Philippe Coutinho die Selecao auch noch mit einem wunderbaren Treffer in der 20. Minute in Führung brachte, schien der Bann gebrochen. Die Spieler feierten und jubelten, als wäre gerade etwas ganz Wichtigeres gelungen und nicht nur ein erstes Tor in einem ersten WM-Spiel.
Aber Brasilien schleppt dieses deutsche 7:1 aus dem Halbfinale 2014 mit sich herum, das psychologisch, wie Nationaltrainer Tite vor diesem Turnier zugab, „eine sehr große Bedeutung“ hat. Für das Land, aber vor allem für die Mannschaft, die mittlerweile zwar ein anderes Gesicht hat, aber noch immer ein paar wichtige Spieler in ihren Reihen, die die Schmach damals in Belo Horizonte miterlebt haben.
Neymar gehört nicht dazu, er musste im Halbfinale mit gebrochenem Lendenwirbel zuschauen, und vielleicht macht es das besonders schwierig. Mit ihm, da ist sich ganz Brasilien sicher, wäre das nicht passiert, und er fühlt sich wohl verpflichtet, diesen Beweis in Russland zu liefern. Der 26-Jährige von Paris St. Germain, der gerade erst eine Fußverletzung auskuriert hat, hat sich sicher nicht zufällig vor Turnierstart eine neue, auffällige Frisur zugelegt. Er weiß, dass er damit die Aufmerksamkeit noch mehr auf sich zieht, ebenso wie mit dem leidenden Abgang aus Rostow, und vielleicht den Kollegen etwas Druck nimmt. Dabei hätte das Führungstor schon die erhoffte Befreiung sein können – wenn die Brasilianer einfach so weitergemacht hätten. Aber sie haben sich fatalerweise zurückgezogen. „Man konnte fühlen, dass da was passiert“, sagte Tite. „Die Angst vor dem ersten Spiel war da.“
Die Schweizer haben dann das getan, was als spielerisch unterlegene Mannschaft am erfolgversprechendsten ist, sie bekämpften den Gegner mit allen zulässigen und manchmal auch unzulässigen Mitteln. Die Statistiker zählten allein zehn Fouls an Neymar, dem zwar seine längere Pause noch anzumerken war, aber er ist eben auch im nicht ganz fitten Zustand nur schwer zu halten.
Für den eidgenössischen Trainer Vladimir Petkovic war es aber „ein Schlüssel“, den Superstar des Gegners aus dem Spiel zunehmen. Der andere, dass Steven Zuber den Ausgleich köpfte, in dem er sich im Strafraum, wie die Brasilianer fanden, mit unfairen Mitteln Platz verschafft hat. „Aber das soll keine Entschuldigung sein“, sagte Tite. „Wir hätten kühlen Kopf bewahren müssen.“ Aber genau das fällt den emotionalen Brasilianer schwer.