„Wir sind auf dem Zenit“

von Redaktion

Mats Hummels über Hierarchien, Platzhirschdenken, Schüchternheit und WM-Lektüren

München – Mats Hummels (29) ist in der Nationalelf wie beim FC Bayern eine unumstrittene Führungskraft. Im WM-Viertelfinale vor vier Jahren köpfte er das entscheidende 1:0 gegen Frankreich. Im Gespräch erläutert er die Vorbereitung auf Russland.

-Herr Hummels, der letzte Test vor der WM gegen Saudi-Arabien verlief mit dem besten Personal ernüchternd. Müssen sich die Fans Sorgen machen?

Das war es in der Tat nicht ausreichend. Ich war überrascht, dass es so gekommen ist, weil wir eigentlich eine äußerst selbst- und ballsichere Mannschaft haben. Wir haben es nicht geschafft, den Ball zu sichern, in unserer Formation zu stehen und so Konter abzufangen. Wir haben daraus ein wildes Spiel werden lassen.

-Wie beurteilen Sie die Pfiffe gegen Ilkay Gündogan, die ja auch indirekt Mesut Özil galten?

Ich finde die Pfiffe unglücklich. Man muss die Aktion der beiden nicht gut finden, aber wir reden nicht davon, dass sich zwei Leute über Jahre irgendwelche Ausfälle erlaubt haben, sondern von zwei Spielern der deutschen Nationalmannschaft, die schon oft für uns gespielt haben, alles für uns geben und sich eine einzige Aktion geleistet haben.

-Haben die Missfallenskundgebungen Auswirkungen auf alle Spieler?

Wir haben das natürlich wahrgenommen. Es war anfangs eine tolle Atmosphäre im Stadion, aber mit dem Einsetzen der Pfiffe haben die Fans auch aufgehört, uns als Mannschaft zu unterstützen. Das ist schade, weil der Fokus von außen nur noch darauf lag: „Wenn Ilkay den Ball hat, müssen wir pfeifen.“ Das fand ich, ehrlich gesagt, misslungen. Ich hoffe, das wird keine Dauersache.

-Wie bereiten Sie sich auf Russland vor – lesen Sie Bücher über das Land?

Ich habe mir tatsächlich eins gegriffen: „100 Gramm Wodka“, ist aber ein ernsthaftes Buch. Mein Bild von Russland ist noch extrem unausgereift.

-Der DFB hat den Spielern Apps eingerichtet, auf denen Sie auch nachschauen können, wie Sie auf politische Fragen hinsichtlich der WM antworten sollten. Haben Sie die Antworten schon auswendig gelernt?

Ich habe noch nicht auf die Apps geschaut. Es gab auch keine große Schulung, bei der wir auf der Schulbank saßen.

-Gab es Tipps von der Kanzlerin?

Wir haben drüber gesprochen, es ging auch darum, ob man als Fußballprofi vielleicht mal etwas freier etwas sagen kann, ohne auf die politische Korrektheit bis ins letzte Detail zu achten. Dabei belassen wir es bitte mal. Es war ja schließlich ein internes Gespräch.

-Ist die Nichtberücksichtigung von Leroy Sané auch ein Zeichen an die anderen jungen Spieler: „Hey, ihr müsst mehr machen!“

Generell ist das ein guter Ratschlag an alle talentierten Spieler, dass man immer alles geben muss. Auch ein 29-jähriger Innenverteidiger wie ich darf nie zufrieden sein.

-Für Sie selbst war es ja auch nicht so einfach am Anfang im Nationalteam.

Das stimmt. Das hatte mit der anderen Art des Fußballs hier zu tun im Vergleich zu Dortmund seinerzeit und mit dem unterschiedlichen Stellenwert im Club und hier beim DFB. Ich war in Dortmund sehr früh schon einer der Anker und habe diese Rolle sehr genossen. Dann in der Nationalmannschaft eine ganz andere Rolle einzunehmen, hat mit definitiv Probleme bereitet.

-Sind die Jungen von heute schon anders als Sie selbst in Ihrer Generation?

Ja, das ist auffällig. Ich spüre bei Bayern, dass da andere Typen aus der Jugend kommen als noch vor zehn Jahren. Geprägt vor allem auch durch Social Media. Wir reden öfter darüber in unserem Kreis. Bei uns war das Verhalten bei den ersten Profi-Einheiten anders. Ich habe die ersten Wochen in der Bayern-Kabine fast kein Wort gesprochen, mich nicht getraut, irgendeinen anzusprechen. Jetzt kann es vorkommen, dass einer der Jungen nach einer Woche gefühlt drei Jahre bei der Mannschaft ist, was sein Verhalten angeht.

-Vielleicht waren Sie sogar zu zurückhaltend?

Ja, kann sein. Vielleicht hat es mich daran gehindert, mit 17, 18 schon bei Bayern Fuß zu fassen. Ich habe zwar alles gegeben, wollte aber niemandem wehtun. Wenn ich einen mal getunnelt hatte, habe ich mich 10 000 Mal entschuldigt.

-Bekommen die Jungen zu früh alles serviert?

Also, ich war als junger Kerl am Anfang immer in der Mitte im Kreis und habe die Tore geschleppt. Ich habe erst mit 25 aufgehört, Tore zu tragen. Es ist auffällig, dass inzwischen ein 18-Jähriger nicht versteht, warum er das jetzt machen muss. Tatsächlich ist es gerechtfertigt, das zu hinterfragen. Aber andererseits gehört es dazu, dass man sich seinen Platz erkämpfen muss. Früher durften die Jungs nicht einmal auf die Massagebank. Wir Älteren sind heute viel entspannter und sagen: „Ok, dann komme ich in einer halben Stunde noch mal vorbei.“ Früher war das Platzhirschdenken noch krasser ausgeprägt.

-Wie äußerte sich das noch – außerhalb der Massagebank-Termine?

Ich wurde heftig angegangen von Konkurrenten, als ich mit 17 hochgekommen bin. Ich wollte doch anfangs niemandem einen Platz wegnehmen, sondern erst einmal nur mitlaufen – die Blutgrätsche auf Kniehöhe kam dennoch. Das gibt es jetzt nicht mehr.

-Wenn man Sie in der Freizeit beobachtet, laufen Sie mit Thomas Müller voran und die anderen dackeln brav hinterher.

Das ist mehr unserem Charakter geschuldet als der Hierarchie. Thomas gehört zu den Lauteren bei uns, ich auch, aber hinter ihm merkt man das manchmal nicht so (lacht).

-Wie wichtig ist der Bayernblock im Nationalteam? Man sieht Sie ja oft zusammen, beim Eisessen, beim Golfen, im Dönerladen.

Alle acht Bayern werden ja keine Stammspieler sein, maximal fünf. Es geht mehr um das Gerüst mit Toni Kroos und Sami Khedira. Wir spielen ja alle schon sehr lange zusammen. Das ist das Korsett, auf das man sich verlassen kann. Seit 2014 sind in den Stamm im Grunde nur Joshua Kimmich, Jonas Hector und Timo Werner reingerutscht.

-Man hat das Gefühl, dass dieser Stamm es auch jetzt wieder richten muss.

Aber das war ja auch zu erwarten. Wir erfahrenen Spieler sind auf dem Zenit, kann man sagen. Wir haben über die Jahre das Selbstverständnis entwickelt, Widerstände zu überwinden. Aber vielleicht wird es dann auch mal in den kleinen Momenten auf einen der Jüngeren ankommen.

-Ist es für Sie mit der goldenen Generation womöglich die letzte WM?

Das letzte große Turnier ist es in meinen Planungen nicht, es kommt ja noch eine EM in zwei Jahren. Die nächste WM in Katar kann ich mir aber nur schwer vorstellen. Ob ich dann mit 34 noch die Kraft habe? Ich bin da eher skeptisch.

-Was kommt heraus, wenn Sie die Mannschaften 2018 und 2014 vergleichen?

Schwer zu sagen. Wir sind eine ähnliche Mannschaft. Aber einer wie Philipp Lahm fehlt uns natürlich. Wir hatten 2014 fünf Spieler dabei, die gar keine Minute gespielt haben. Das werden wir, glaube ich, diesmal nicht sehen. Unser Kader ist breiter aufgestellt. Vor vier Jahren war der Teamspirit der Schlüssel zum Erfolg. Wir haben jetzt auch einen sehr guten Teamgeist. Aber diesen letzten Spirit müssen wir noch entwickeln. Das letzte Fünkchen muss noch überspringen.

Aufgezeichnet von Jan Christian Müller

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