München – Als der Fußballkommentator Heribert Faßbender vor zwölf Jahren in den Ruhestand ging, fehlte in keiner Würdigung eine Sammlung seiner schönsten Zitate. Natürlich erschien stets an prominenter Stelle das „Guten Abend allerseits“, das es im Laufe der Jahrzehnte zum Markenzeichen des WDR-Mannes gebracht hatte, aber noch ein anderes Bonmot schaffte es in die Geschichtsbücher: „Schickt den Mann zurück in die Pampa!“
Juan Carlos Loustau hieß der Schiedsrichter, der sich am 24. Juni 1990 den Reporterzorn zuzog. Es war das WM-Achtelfinale Deutschland – Niederlande, bis heute ein Klassiker. Rijkaard bespuckt Völler, beide sehen Rot, Faßbender schäumt.
Dass Referees in die Kritik geraten, ist in diesem Sport normal, und kaum jemand hat tadelnde Worte mehr verdient als damals der Unparteiische aus Argentinien. Verglichen mit den Reaktionen der jüngeren WM-Geschichte kam Loustau aber fast noch glimpflich davon. Auch heutzutage fehlt selten der Hinweis auf das Ursprungsland des Schiedsrichters – eine Steilvorlage für Polemik –, doch der Ton ist noch schärfer. Die Schweizer Boulevardzeitung „Blick“ empfahl 2010 einem saudischen Referee, er möge „in der Wüste Kamele treiben“, und selbst Ottmar Hitzfeld, ein Musterbeispiel für Diplomatie, verlor bei diesem Turnier kurz die Contenance: „Bei einer WM sollten nur die Besten pfeifen“, die auch sonst in großen Ligen beschäftigt sind – „und nicht irgendwo am Strand“.
Schiedsrichterkritik gehört zur WM-Folklore, sie wird auch in Russland verlässlich aufkommen. Oft entzündet sie sich daran, dass Referees aus Kontinentalverbänden stammen, in denen das sportliche Niveau überschaubar ist. Der Unparteiische, der in Afrika oder Ozeanien aktiv ist, kann auf den europäischen Hochgeschwindigkeitsfußball leicht mit Überforderung reagieren, aber so drastisch wie in früheren Jahren ist es in Wahrheit gar nicht mehr. „Das hat sich durch die Internationalisierung des Fußballs gewandelt“, sagt Markus Merk, der selber bei zwei Weltmeisterschaften gepfiffen hat und heute als Sky-Experte die Spiele verfolgt. „Wie bei den Teams gibt es keine Kleinen mehr.“ Die 35 Schiedsrichter, die in Russland dabei sind, haben einen Ausleseprozess hinter sich, der schon kurz nach der WM 2014 begann. Es gab große Juniorenwettbewerbe, bei denen sie sich bewähren mussten, Klub-Weltmeisterschaften, dazu unzählige Workshops, allein drei in den vergangenen Monaten.
Merk, der dreimalige „Weltschiedsrichter des Jahres“, hat zu seinen aktiven Zeiten aus nächster Nähe miterlebt, wie Top-Referees aus Proporzgründen zuhause bleiben mussten, weil im WM-Kader Platz für die anderen Kontinente bleiben musste. „Da ist es zu unfassbaren Streichfällen gekommen“, erinnert er sich. Trotzdem findet er das Prinzip richtig: „Natürlich sagt man, die Besten sollen dabei sein. Aber dann könnte man schon bei den Mannschaften anfangen.“ Fußball ist für ihn „ein kulturelles Ereignis rund um den Erdball“. Das soll sich auch an der Pfeife zeigen.
Kurioserweise waren es bei den jüngsten Turnieren häufig Vertreter großer Nationen, aus Frankreich oder Italien, die die meiste Kritik auf sich zogen. Das WM-Viertelfinale 2014 zwischen Brasilien und Kolumbien, in dem Neymar einen Wirbelbruch erlitt, gilt bis heute als Skandalpartie, als Paradebeispiel für eine schlechte Leitung. Verantwortlich war Carlos Velasco Carballo. Ein Spanier. Ein beliebter Vorwurf vor vier Jahren: Die Schiedsrichter ließen zu viel durchgehen, um den Spielfluss nicht zu stören. 2010 war ihnen noch übertriebene Strenge attestiert worden.
Diesmal dürfte es ganz andere Probleme geben. Zum ersten Mal wird bei einer WM der Videobeweis angewandt. Wenn man sich erinnert, wie mühevoll die deutschen Schiedsrichter sich an die neue Technologie gewöhnen mussten und wie umstritten der vermeintliche Streitschlichter noch immer ist, muss man kein Prophet sein, um für die nächsten Wochen viele heikle Entscheidungen zu erwarten. In Afrika erlebte der Videobeweis erst im Februar seine Premiere, beim kontinentalen Super Cup zwischen Wydad Casablanca (Marokko) und TP Mezembe aus der Demokratischen Republik Kongo. Von einem Regelbetrieb ist Afrika noch weit entfernt.
Markus Merk spricht von einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ bei der WM. Wer wie die Deutschen, Italiener oder Niederländer schon Erfahrung hat, fremdelt nicht mehr. „Für die anderen ist das ein zusätzliches Problem“. Niemand vermag zu sagen, wie die Umsetzung klappt. Letztes Jahr beim Confed Cup, erinnert sich Merk, gab es im Finale einen chilenischen Ellenbogencheck gegen Timo Werner. „Jeder fragte sich: Wie kann der da nur Gelb geben? Und hinterher kam raus, dass man ihm die falschen Bilder hingelegt hat.“