Unsere Serie: Fragen zur WM in Russland (III)

Wo bleiben die Exoten?

von Redaktion

Die Felder werden größer, aber auch die Leistungsdichte wächst – die weltweite Professionalisierung zeigt Wirkung

VON GÜNTER KLEIN

Eppan – Deutschland war begeistert, als es am Morgen des 11. Oktober 2017 erfuhr: Panama hat sich erstmals für die Endrunde der Fußball-WM, also für das richtige Turnier, qualifiziert. Kollektiv und mit einem Lächeln sagten die Menschen: „Oh, wie schön ist Panama.“

Man muss die Geschichte nicht kennen (Kleiner Tiger und kleiner Bär glauben, nach Panama zu reisen) – aber der Titel des Jugendbuches von Zeichner und Autor Janosch ist einfach ein Klassiker. Und der eine Kontext, in den man das Land stellt. Der andere: der Kanal. Und der dritte: Noch einmal Buch/Film, nämlich „Der Schneider von Panama“, ein Werk des Agentengeschichtenschreibers John le Carré. Oder, Nummer vier: der Panama-Hut. Panama ist eine Marke.

Und jetzt: Die Kicker von Panama. Ist es eine neue Exotenstory, die die Fußball-Weltmeisterschaft schreibt?

Es ist eine Aufstiegsgeschichte, mehr aber nicht. Panama, angesiedelt in der CONCACAF, dem Kontinentalverband für Mittel-, Nordamerika und die Karibik, nimmt schon länger Anlauf auf ein Finalturnier, kurz vor der WM in Deutschland hatte das Nationalteam seine eigentlich beste Zeit, als es zumindest die USA mal wieder fordern konnte. In der (damals noch etwas anders berechneten) Weltrangliste stand es höher als heute (Platz 55), und auch 2013 hatte es ein Hoch (Rang 38). Ein typischer Exot ist Panama also nicht. Wer weiß: Vielleicht wird er in der WM-Gruppe den Engländern gehörig auf den Geist gehen.

Die größte Sensation von allen: Nordkorea

Schon seltsam: Den Weltmeisterschaften gehen die Exoten aus. Obwohl das Turnier immer größer wird. 32 Teilnehmer sind es aktuell, in acht Jahren werden es 48 sein. Doch die wunderbaren Geschichten von Teams, die wie zufällig zu einer WM geraten sind, datieren aus der Zeit, als das Format ein kleineres war.

Wobei: Die allerschönste Geschichte hat die FIFA verhindert. 1950 hätte Indien das Recht gehabt, in Brasilien anzutreten, die Mannschaft hatte sich regelgerecht qualifiziert. Auf besondere Art: Die Spieler traten barfuß an. Doch der Weltverband bestand darauf, dass in der Finalrunde mit Schuhen gespielt werden müsse. Also blieb Indien einfach weg – und hat es bis heute nicht geschafft, sich zu qualifizieren.

Der Reiz bei den Teams, die in der Geschichte der WM vor der erstmaligen Teilnahme an der Endrunde standen, war: Man wusste wenig über sie, es gab kaum Bildmaterial, aus dem man hätte schließen können, welcher Philosophie sie folgen. Sie spielten nur in ihrer Blase, auf ihren Erdteilen, ihre Spieler bezogen sie aus den eigenen Vereinen und Ligen, unter der Anleitung eigener Trainer. Auch diese Nationen hatten selbst keine Ahnung, was sie bei der WM in Europa oder Südamerika erwarten würde. Wenn sie dabei waren: Manche Kontinentalverbände hatten zunächst keinen garantierten Startplatz, sondern nur einen halben, sie mussten noch in eine Extra-Runde gegen den Sieger von einem anderen Ende der Welt.

Wie Nordkorea 1966 als Vertreter Asiens, der sich aber erst gegen Afrika hatte durchsetzen müssen, um zu den 16 Finalteams in England zu gehören. In der Vorrunde gelang Nordkorea eine Sensation, die wohl nie mehr zu überbieten sein wird: ein 1:0-Sieg über das große Italien. Im Viertelfinale gegen Portugal führten die Kicker aus dem vom Rest der Welt isolierten Teil Koreas gegen die Portugiesen nach 25 Minuten mit 3:0. Dank des großen Eusebio konnte Portugal das Fiasko noch abwenden, es gewann 5:3.

Meist blieb der Exot liebenswürdig schwach. Die WM 1974 in Deutschland hatte gleich drei Mannschaften zum Knuddeln. Die FIFA hatte bereits für 1970 beschlossen, dass ein Afrikaner garantiert dabei sein müsste, und Ozeanien hatte seitdem die Chance, sich gegen Asien um einen Platz durchzusetzen. So kam Australien 1974 zur WM, sogar in die deutsche Gruppe. Eine Mannschaft aus reinen Amateuren, die regulären Berufen („Milchmann“) nachgingen, einige von ihnen mit deutschen Vorfahren. Für Afrika war Zaire am Start, das im zweiten Spiel gegen Jugoslawien die Grenzen aufgezeigt bekam: 0:9. München lernte Haiti, den Überraschungs-Sieger aus CONCACAF, kennen, der Spielplan wollte es so, dass die Truppe aus der Karibik ihre drei Spiele im Olympiastadion hatte. Haiti war der einzige der drei Exoten, der Tore erzielte (zwei). Die Gesamtbilanz der drei WM-Neulinge lautete: neun Spiele, neun Niederlagen, 2:33 Tore.

Die Münchner verliebten sich in Haitis Torwart Henri Francillon, der TSV 1860 verpflichtete ihn. Zu mehr als fünf Einsätzen in der Südgruppe der zweiten deutschen Liga reichte es nicht. Nach einer Saison kehrte er zu seinem Stammclub in Haiti (Victory SC) zurück.

In den folgenden Jahrzehnten waren auch die Teams der Außenseiter selten so konstruiert wie das haitianische, das nur zwei seiner Kräfte im Ausland hatte (ein Mann in Frankreich, einer in Trinidad und Tobago). Die Globalisierung erreichte den Fußball. Kamerun und Algerien, die 1982 auf die Bühne traten, konnten auf schon gutklassige Spieler bauen, die Verträge in Frankreich und Spanien hatten. Die FIFA erweiterte von 16 auf 24 Mannschaften, die Kontinentalquoten wurden großzügiger. Es entstand eine neue Gruppe von Nationen, die sich nahezu regelmäßig qualifizierten: USA, Japan, Südkorea, Saudi-Arabien. Ihren Exotenstatus behielten sie nicht lange, sie wechselten ins Establishment. Wie auch die besten Afrikaner: Kamerun, Nigeria, Ghana, Elfenbeinküste, Senegal. Selten, dass es für manche Länder bei der einmaligen Teilnahme blieb (wie Israel 1970, Vereinigte Arabische Emirate 1990, Jamaika 1998, Togo, Trinidad&Tobago 2006, Neuseeland 2010).

2018 gibt Island sein WM-Debüt. Mal ein europäischer Neuling. Aber kein Exot mehr. In wenigen Ländern wird so planvoll gearbeitet wie in Island. Es wurden Hallen errichtet, damit auch im langen Winter Fußball gelehrt werden kann, man holte sich kundige Instruktoren aus Schweden, unterstützte die Transfers der besten Spieler in europäische Topligen.

Der Sportsoziologe Eike Emrich, ehemals als Funktionär in der deutschen Leichtathletik und der Olympischen Bewegung tätig, spricht an, was auch für den Fußball gilt: „Es findet im Leistungssport Wissentransfer in alle Ecken der Welt statt.“ Das gehöre sich auch so, „doch die Etablierten schaffen sich dadurch einen härteren Wettbewerb.“

Gegen die FIFA kann man vieles einwenden, man kann auch anzweifeln, ob die Motivation, die hinter Entwicklungsprojekten wie „Goal“ steht, eine lautere ist (und nicht das Sichern von Stimmen im stetigen Wahlkampf um lukrative Posten) – aber den Fußball bringt das flächendeckend voran. Wo Gelder nicht versanden, entstehen Trainingsanlagen, funktioniert die Trainerausbildung, herrscht Professionalität.

Das gilt auch für Panama. Die Spieler sind gut genug, um mehrheitlich Verträge in der Major League Soccer zu haben, wo sie von Bastian Schweinsteiger und Zlatan Ibrahimovic abschauen können, wie’s geht.

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