Eppan – „Es ist eine wahnsinnige Enttäuschung, es bricht eine kleine Welt zusammen.“ Bundestrainer Joachim Löw weiß, was er vieren seiner Spieler am Montagvormittag antun muss. Sein eigener Beliebtheitswert wird sinken, wenn er den Akteuren, die zum 27er-Kreis gehören, aber nicht in der 23er-Kader vorstoßen werden, mitteilen muss: Du bist nicht dabei. Wer ins Trainerzimmer telefoniert wird, weiß schon: Das bedeutet nichts Gutes.
„Manchmal gibt es Argumente für die Entscheidung, manchmal ist es einfach das Bauchgefühl“, sagt Löw. Die Gespräche mit den Spielern sind eher kurze Mitteilungen: „Auf lange Gespräche hat da keiner mehr Lust.“ Zehn Tage alles investiert, nichts bekommen – das ist die Rechnung der Betroffenen.
Der Rest des Trainingslagers findet ohne sie statt. Dreieinhalb Tage. „Sie müssen uns am Montagmittag verlassen“, sagt Löw und hört sich an wie der Hoteldirektor, der auf Einhaltung der Checkout-Zeit besteht. Aber ist das wirklich so, müssen die Spieler gleich abreisen? Ist es noch nie vorgekommen, dass einer sagt, er wolle die paar Tage noch bleiben und lernen. „Also, in meiner Zeit hat es das noch nicht gegeben“, so Löw. Er würde sich sehr wundern, wenn ihm ein solches Ansinnen vorgetragen würde. Es käme ihm unheimlich vor. „Denn wozu sollte ein Spieler dann noch trainieren wollen?“
Um bereit zu sein für den Fall, dass er nachnominiert wird? Das ist weiterhin möglich – bis 24 Stunden vor dem ersten deutschen WM-Spiel (17. Juni gegen Mexiko). Wenn einer der 23, die am Montag um 12 Uhr bei der FIFA gemeldeten Spieler sich danach noch schwer verletzen würde. Den Fall hatte Löw sowohl vor der WM 2014 als auch der EM 2016.
2014 zog sich Marco Reus am Abend vor dem Abflug nach Brasilien im Testländerspiel gegen Armenien eine komplexe Fußverletzung zu. Am nächsten Tag, einem Samstag, erwischte Löw Shkodran Mustafi, den er in der Woche zuvor im Trainingslager im Passeiertal aus dem Kader gestrichen hatte. Damit veränderte der Bundestrainer die Struktur seines WM-Aufgebots. Offensivmann Reus ersetzte er durch Verteidiger Mustafi.
2016 nahm er einen 1:1-Ersatz vor. Nach Ankunft im ständigen EM-Quartier in Evian am Genfer See riss sich Antonio Rüdiger beim Auftakttraining das Kreuzband, er hatte einen unglücklichen Zweikampf mit Thomas Müller gehabt. Für den Innenverteidiger Rüdiger kam der Innenverteidiger Jonathan Tah. Es war aber aufwendig, ihn zu bekommen, wie Löw erzählt.
Erster Anrufversuch auf dem Handy: ausgeschaltet. Zwei Stunden später: zweiter Versuch. Tah geht ran und sagt dem Bundestrainer, dass er gerade vor zehn Minuten in Miami gelandet sei. Aber selbstverständlich werde er mit dem nächsten Flieger kommen. Der ging „zwei, drei Stunden später“, so Löw, „Jonathan setzte sich sofort wieder ins Flugzeug, nachdem er sich ums Gepäck gekümmert hatte“. Abgeholt, wieder eingecheckt.
Tah kam nach Frankreich, 2018 gehört er zum vorläufigen Kader, Viele tippen, der Leverkusener könnte der überzählige Abwehrspieler sein und ihn am Montag das Gespräch mit Löw erwarten.
2016 war Jonathan Tah nicht mit im Trainingslager in Ascona. Aussortiert wurden damals Julian Brandt, Karim Bellarabi und der verletzte Marco Reus. Not-Nachnominierungen nach der Frist müssen nicht im vorläufigen Kader gemeldet gewesen sein. Theoretisch besteht noch Hoffnung für viele. gük