„Da muss ich die Beine in die Hand nehmen“

von Redaktion

Schiedsrichter Brych über den heutigen Tempo-Fußball, die WM, Druck, Genuss und Entscheidungen in Grauzonen

München – Felix Brych wird in Russland seine zweite WM nach dem Turnier in Brasilien pfeifen. Der Weltschiedsrichter von 2017 aus München, der letztes Jahr das Finale der Champions League leitete, spricht im Interview über seine Vorbereitung, die Anforderungen und Erwartungen.

-Herr Brych, wie ist Ihr Stand auf der Zielgeraden der WM-Vorbereitung?

Es war eine aufregende Rückrunde. Ich durfte vier K.o.-Spiele in der Champions League leiten, ungewöhnlich viel, so hatte ich das noch nie. Jedes Champions League-Spiel ist auch für uns Schiedsrichter ein Highlight. Die Bundesliga ist für mich wie für die Vereine Tagesgeschäft. Da muss man funktionieren, auch da kann ich zufrieden sein. Dazu hatten wir drei Lehrgänge als WM-Vorbereitung, in Italien, Dubai und Doha, jeweils eine Woche.

-Das klingt nach einem intensiven Programm.

Ja, es war anstrengend. Vor einer WM bist du ziemlich eingespannt, da bleibt im Alltag und im Privatleben einiges auf der Strecke. Aber das gehört dazu. Auch wir Schiedsrichter arbeiten auf so ein Großereignis hin und sind bereit, dem vieles unterzuordnen. Diesmal war es noch intensiver, weil wir allein schon wegen des Videobeweises Extra-Lehrgänge hatten.

-Sie sind also schon in WM-Form.

(lacht) Das haben Sie jetzt gesagt. Bitte da keine Schlagzeile draus machen. Aber, ja, ich denke, ich bin gut vorbereitet.

-Wo Sie den Videobeweis ansprechen: Wie lautet Ihr Fazit nach dem ersten Jahr in der Bundesliga – was erwarten Sie für die WM?

Der Anfang war in der Bundesliga kompliziert. In der Rückrunde bekamen wir die Herausforderungen besser in den Griff. Insgesamt ist die Neuerung gut, sie hilft uns Schiedsrichtern. Große Fehlentscheidungen nehmen ab. 100-Prozent-Lösungen wird es im Fußball nie geben, und da herrscht noch immer eine falsche Erwartungshaltung. Im Schiedsrichterbereich gibt es nun mal viele Entscheidungen in Grauzonen, die umstritten sind und zu denen es zum Teil zwei Meinungen gibt. Wenn wir aber durch den Videobeweis dazu kommen, dass 80 Prozent der klaren Fehler eliminiert werden, ist das positiv. Was mich betrifft, bin ich für die WM optimistisch. Ehrlich gesagt habe ich mich in der Hinrunde mit dem Videobeweis nicht so wohlgefühlt, jetzt habe ich ein besseres Gefühl. Man braucht Erfahrungswerte. Und wir haben für die WM viel getestet.

-Und ein paar Diskussionen beleben jeden Stammtisch. Klinischer Fußball wäre auch nicht allen Recht.

Guter Satz. Man muss einfach versuchen, Ungerechtigkeiten so weit wie möglich zu eliminieren. Das ist schon viel wert.

-Wie sind bisher Ihre Russland-Erfahrungen?

Ich habe vor allem zu Beginn meiner internationalen Laufbahn viele Spiele in Russland geleitet. Oft bei ZSKA Moskau, auch bei Rubin Kasan und in St. Petersburg. Es wird kein Neuland, weder das Turnier an sich als meine zweite WM noch das Gastgeberland.

-Was ist in Russland die größte Herausforderung?

Die großen Distanzen bedeuten strapaziöse Reisen. Dazu hast du verschiedene Klimata, wenn auch nicht so extrem wie in Brasilien. Im Großen und Ganzen spielt für mich das Gastgeberland aber eine untergeordnete Rolle. Ich bereite mich auf die Mannschaften vor, die ich pfeife. Den Rest blende ich aus. Mein Team und ich haben schon auf jedem Kontinent Spiele geleitet, wir können uns da spontan umstellen.

-Wartet man als Schiedsrichter vor einer WM wie die Spieler auf einen Anruf, dass man nominiert ist?

Es war eine E-Mail von Massimo Busacca, dem Leiter der FIFA-Schiedsrichter. Es war kurz vor dem dritten Lehrgang. In Italien waren dann nur noch die Gespanne dabei, die für die WM nominiert worden sind. Davor gab es eine Shortlist, nach und nach wurde der Kreis der Anwärter verkleinert.

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-Bedeutet eine zweite WM persönlich mehr Druck – oder sogar weniger?

Gute Frage. Das zweite Mal für eine WM nominiert zu sein, bedeutet Wertschätzung und ist der Beweis, dass man seine Leistungen über vier Jahre bestätigt hat. Hohes Niveau in dem volatilen Fußballgeschäft zu halten, ist nicht so leicht. Es wird wahrscheinlich die letzte WM sein, die ich mit meinem Team bestreiten werde. Der Druck ist aber vielleicht nicht mehr ganz so groß. Ich kann auf einen großen Erfahrungsschatz und eine gute Laufbahn zurückblicken. Ich reise mit einer positiven Anspannung zur WM und muss keinem mehr was beweisen. Aber ich möchte natürlich mit meinem langjährigen, großartigen Team, Mark Borsch und Stefan Lupp, gut pfeifen. Der Druck kommt von alleine, auf dem Platz.

-Können Sie so eine WM sogar genießen?

Nicht wirklich, Genuss ist nicht drin. Dafür ist die Anspannung zu groß. Ich freue mich über jede Ansetzung, weil ich mich auf das Spiel, die Aufgabe freue. Im Rückblick kann man dann mal genießen, wenn man weiß, es lief alles reibungslos. In der Kabine nach dem Abpfiff fällt die Spannung ab. Aber nur kurz. Dann geht ja schon wieder die Vorbereitung auf die nächste Partie los, gerade physisch mit Training, Regeneration etc. Ich freue mich auf das Turnier, aber das Spiel an sich ist kein Genuss. Das ist Arbeit, die einen fordert.

-Sie sagten eben, es wird Ihre letzte WM. 2022 ist kein Anreiz mehr?

Wir Schiedsrichter haben in Deutschland eine Altersgrenze. Mit 45 Jahren ist Schluss, aber es wird eine Änderung in Erwägung gezogen. International wurde das schon aufgehoben. Ich möchte aber nicht so weit denken gerade.

-Die Vorbereitung auf eine Partie ist in vielerlei Hinsicht fordernd; das Physische liegt auf der Hand, aber auch taktisch müssen Sie auf der Höhe sein.

Das stimmt. Wir arbeiten mit eigenen Taktik-Trainern, die uns auf die Spiele vorbereiten. In der Champions League zum Beispiel bereiten wir uns dezidiert auf die einzelnen Teams vor. So wird das auch bei der WM sein. Bei einer WM kommt die Ansetzung zwei Tage vor einem Spiel, dann beginnt die Vorbereitung.

-Sie pfiffen heuer unter anderem das Halbfinal-Hinspiel zwischen dem FC Liverpool und dem AS Rom. Wissen Sie im Vorfeld, dass ein Konter der Briten im Schnitt sechs Sekunden dauert?

Ja, bei gewissen Teams weiß ich im Vorfeld: Wenn der Ball im Strafraum geklärt ist, dann muss ich die Beine in die Hand nehmen. Jetzt wird es ernst.

-Die Laufwege der Schiedsrichter sind im Idealfall auch festgelegt; haben Sie in so einer Situation denn überhaupt noch Zeit, spezielle Wege zu wählen?

Nein, in solchen Situationen ist nichts mehr vorgegeben. Da muss man den kürzesten Weg suchen, fernab jeder Lauf- und Regelschulung. Da geht es nur darum, schnell mit und zum anderen Strafraum zu kommen. In sechs Sekunden kann es ja dort zu einer kniffligen Szene kommen. Da muss ich auf der Höhe sein. Alle Mannschaften mit einem extremen Gegenpressing beziehungsweise Umschaltspiel sind eine große Herausforderung. Wenn du da einmal falsch abbiegst, läuft das Spiel an dir vorbei.

-Ganz ehrlich: Wie schwer ist es denn, mit 42 Jahren mitzuhalten?

Ich muss mein Training entsprechend steuern. Teilweise bin ich doppelt so alt wie die Spieler, da kann ich mich nicht unter der Woche tottrainieren. Ich muss mehr Wert auf die Regeneration legen. Anfangs der Saison musste ich in einem Bundesligaspiel mit einer Muskelverletzung ausgewechselt werden. Im Alter kommen eben Wehwehchen. Generell war ich mit meiner Hinrunde nicht so zufrieden, ich bin nach dem Champions League-Finale, meinem großen sportlichen Ziel, nicht rund in die Saison gestartet. Die Rückrunde ist dagegen echt gut verlaufen.

-Sie sehen und definieren sich als Sportler?

Ja, auf jeden Fall. Man muss die Leistung von Schiedsrichtern schon so bewerten. Das Tempo im Fußball ist in den letzten Jahren gewaltig gestiegen, wir müssen da mithalten. Natürlich sind unsere Kernaufgaben andere, es geht um Entscheidungen und damit viel in den Bereich des Mentalen, Psychischen, in den Bereich der Menschenführung. Aber ohne sportliches Grundgerüst hätten wir keine Chance.

-Bei internationalen Turnieren pfiffen Sie bisher Senegal, Uruguay, Brasilien, Honduras, Japan, Mexiko, Costa Rica, Belgien zwei Mal, Russland, England, Wales, Schweden, Polen und Portugal. Fehlt eigentlich nichts mehr, oder? Deutschland dürfen Sie ja nicht.

Nein. Wie gesagt, ich habe auf allen Kontinenten der Welt gepfiffen, auch Ligaspiele etwa in Iran, Saudi-Arabien, Korea. Ich kenne die sportlichen Eigenheiten und die Mentalität auf jedem Kontinent. Vor vier Jahren bei der WM und bei meinem ersten Turnier, den Olympischen Spielen 2012, war das natürlich weniger ausgeprägt. Einen Asiaten muss man anders führen als einen Südamerikaner. Die Kommunikation ist anders, das Spielsystem, das Zweikampfverhalten. Erfahrung hilft enorm.

-Ist es zu klischeehaft zu sagen, dass etwa ein Asiate die Autorität des Schiedsrichters mehr anerkennt als ein Südamerikaner?

Das ist absolut klischeehaft und das wollte ich so auch nicht sagen, weil es im Fußball nichts Klischeehaftes oder Pauschales gibt. Es geht um die Form der Ansprache oder auch Nicht-Ansprache, aber das kommt immer auf den einzelnen Spielertypen an.

-Wann fliegen Sie los?

Gut zehn Tage vor dem Turnierstart. Die Schiedsrichter sind alle in einem Quartier in Moskau zusammen untergebracht. Ich freue mich auf viele Kollegen, man kennt sich ja inzwischen. Man sitzt dann auch mal abends zusammen, schaut Spiele und analysiert sie. Ich mag das. Wir Schiedsrichter sind auch ein Team. Genau wie jede Nation, die antritt.

-Welches Turnier war Ihr bisher schönstes?

Die Olympischen Spiele 2012 in London. Mein erstes großes Turnier. Aber ich möchte noch kein abschließendes Urteil abgeben. Es kommt ja noch was. Die EM 2020 wäre ein Anreiz – eventuell Spiele bei so einem großen Turnier in meiner Heimatstadt München zu pfeifen, das wäre was. Aber jetzt liegt erst einmal der Fokus auf der WM in Russland.

Interview: Andreas Werner

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