Dortmund – Joachim Löw staunte aufrichtig: Was man mit dieser modernen Technik alles machen kann. Er saß in Dortmund auf einer im Deutschen Fußballmuseum errichteten Bühne, Stanislaw Tschertschessow war zur gleichen Zeit in Moskau – und dennoch fanden die beiden Trainer, der deutsche und der russische, die ein Stück gemeinsamer Geschichte beim FC Tirol Innsbruck verbindet, zusammen. Hologrammtechnik ermöglichte es: Ein dreidimensionales, nur leicht flimmerndes Abbild von Tschertschessow nahm in Dortmund auf dem Sessel neben Löw Platz. Eine Illusion, wie sie der FC Bayern schon einmal präsentiert hatte, als er eine Pressekonferenz für ein internationales Sommerturnier veranstaltete. Auch da erschienen die Hologramme von gegnerischen Trainern wie Jürgen Klopp, die tatsächlich viele Stunden entfernt waren und sich so eine aufwendige Reise ersparten
Der halbechte Tschertschessow, von Löw liebevoll „Stani“ genannt, passte ganz gut zu einer Veranstaltung, auf der sich viele Fragen darum drehten, wann man denn Manuel Neuer, den (einst) fabelhaften Weltmeister-Torhüter, wieder leibhaftig, in voller Blüte und nicht als Trickfigur sehen werde. Joachim Löw hat erste Antworten gegeben.
Sie lauten: „Seine Verletzung ist vollständig ausgeheilt.“ So hat er’s von den Ärzten. „Er wird diese Woche in München voll ins Training einsteigen.“ Dieser Informationsstand war ausschlaggebend: Löw und seine Mitstreiter um den Torwartspezialisten Andy Köpke geben Neuer die Chance, die für eine WM erforderliche Form nachzuweisen. „Es sind“, so Löw, „ja noch zweieinhalb Wochen Zeit“.
Zum ersten Mal hat er darum in einen vorläufigen WM-Kader vier Torhüter einbestellt – einen wird er also streichen müssen. Bei den Feldspielern verfährt Löw traditionell großzügiger, hier hat er momentan drei mehr auf dem Zettel, als er letztlich bei der FIFA melden muss. „Das hat sich bewährt, es kann leicht zu Verletzungen kommen“. Das hat er noch vor jedem WM-Turnier erlebt, für das er in der Verantwortung stand. 2010 verletzten sich Christian Träsch und Heiko Westermann (wer erinnert sich noch an sie?), 2014 Lars Bender und Marco Reus (beim Testspiel am Abend vor dem Abflug nach Brasilien). Reus, der Dortmunder, über den Löw so viel Gutes zu sagen hat („Hat Instinkt, Spielintelligenz, Gefühl für die Räume“), wird, wenn er gesund bleibt („Man muss bei ihm dosieren, ihn auch individuell belasten“), sicher in Russland dabei sein – im Fall Neuer lässt sich das nicht so sagen.
Hier stellt Löw klipp und klar fest: Manuel Neuer hat seinen Bonus als Kapitän der Mannschaft, als Weltmeister, als anerkannt weltbester Torhüter – aber nur unter einer Voraussetzung: „Er braucht noch Spielpraxis. Ohne Spiele kann er nicht in ein große Turnier gehen.“
Also wird im Fall des Bayern-Keepers, der in der Bundesliga letztmals im September aufgetaucht war und seitdem unter den Folgen seiner dritten Mittelfußfraktur leidet, wie folgt vorgegangen. Im Trainingslager ab dem 23. Mai in Südtirol will Löw von ihm das volle Programm sehen: „Wie reagiert sein Fuß? Wie ist es bei Sprüngen, bei extremen Belastungen? Wie verhält er sich im Schusstraining?“ Und: Neuer wird am 2. Juni in Klagenfurt das Testländerspiel gegen Österreich bestreiten und dabei überzeugen müssen. Am 4. Juni wird Löw sich entschieden haben müssen, dann verlangt die FIFA die Einreichung des ultimativen WM-Kaders mit 23 Leuten. Drei von ihnen Torhüter. Löw und Neuer haben einander versprochen, „dass wir absolut ehrlich miteinander umgehen“.
Das Tschertschessow-Hologramm wünscht Neuer alles Gute. Tschertschessow war in Innsbruck unter dem Trainer Löw 2001 Torhüter. Er hatte einen Kreuzbandriss, „und ich war schon 39. Ich wollte zur WM 2002 nach Japan und Südkorea“, erzählt er. „Ich habe es geschafft. Auch dank der Arbeit mit Jogi.“