München – Marcel Reif wird die WM als regelmäßiger Gast des „Check24 WM Doppelpass“ auf „Sport1“ (sonntags ab 11 Uhr) als Experte begleiten. In unserem Interview analysiert die Reporterlegende die Nominierungen von Joachim Löw sowie die Chancen der deutschen Elf bei dem Turnier in Russland.
-Herr Reif, wie ist Ihr Eindruck von Joachim Löws Kader: Besser geht’s nicht?
Da ist nichts dabei, das mich vor lauter Verwunderung aus den Schuhen kippen lässt. Jede Nominierung und auch jede Nichtnominierung ist hier nachvollziehbar. Da kann ich mich an ganz andere Zeiten erinnern. Dieser Kader ist sogar stärker als der bei der WM 2014. Früher waren oft Kandidaten dabei, die waren für die Stimmung nominiert, sollten vielleicht mal ein Lied anstimmen oder so, aber von denen wusstest du, die kannst du bei einer WM nicht aufs Feld schicken. Diesmal ist jeder ein ganz feiner Fußballer.
-Ist es aber auch ein Kader der Harmonie?
Muss es ja sein. Löw hat ein sehr feines Gespür dafür, welche Typen er aufeinanderhetzen kann. Bei sieben Wochen kann das entscheidend sein, das muss funktionieren, und er hat da eine Gabe, die ihn von anderen Trainern abhebt. Sie werden mich sowieso nie dazu verleiten, ihn zu kritisieren. Ich habe ihn lange kritisch gesehen. Seit 2014 ist alles anders. Er hat gewonnen.
-Dass Mario Götze fehlt, wird das Ausland sicher überraschen.
Mir tut seine Entwicklung weh. Er bringt alles mit, hat sich aber verloren. Nach der letzten WM ist er einige Male falsch abgebogen. Der arme Kerl wird immer an diesem Final-Tor gemessen. Es wäre aber niemanden zu vermitteln gewesen, ihn mitzunehmen. Ich denke, ihm selbst hätte man keinen Gefallen getan.
-Können Sie sich erinnern, je einen solchen Absturz bei einem WM-Helden erlebt zu haben?
Nein. Aber das kann Teil des Deals sein, wenn man so jung bereits so ein Tor schießt. Fies war, dass Pep Guardiola beim FC Bayern gar nicht auf ihn gesetzt hat. Dann sollte er in Dortmund eine Mannschaft anführen, die alles andere als eine funktionierende Einheit war. Seine Tore sollten spektakulär sein, es war alles viel zu viel – dazu kamen gesundheitliche Probleme. Er ist jung genug, noch mal ein Turnier zu spielen. Dafür muss er sich aber erst finden. Diesmal hätten auch die sieben Wochen Vorbereitung nicht gereicht. Das ist ja keine Reha.
-Nils Petersen ist überraschend dabei, dafür fehlt Sandro Wagner. Zurecht?
Darüber kann man diskutieren, aber es ist sicherlich kein Irrsinn, was Löw da antreibt. Die echte Neun ist wieder in Mode, auch andere Nationen haben sie neu entdeckt. Man setzt nicht mehr nur auf Spitzen, die da vorne wie Brummkreisel herumwirbeln. Mario Gomez ist da die erste Wahl, dahinter brauchst du nur noch einen, das reicht. Für Wagner tut es mir leid, aber Petersen hat entscheidende Qualitäten als Joker. Er braucht ganz wenig Anlaufzeit, er ist sofort da.
-Löw zauberte Petersen hervor – hätten Sie zudem auch Sven Ulreich geholt?
Nein. Er hat eine super Saison gespielt, aber die anderen sind Platzhirsche. Ein zweiter Torwart des FC Bayern wäre ein Signal gewesen, das der Gruppe nicht gutgetan hätte.
-Muss Manuel Neuer am 2. Juni gegen Österreich spielen, um am 4. Juni im WM-Kader zu stehen?
Diese Diskussion ist lächerlich. Macht ihn dieses eine Spiel zu einem WM-Torwart? Es ist eine rein gesundheitliche Frage. Einen Kick mehr mit Boateng und Hummels braucht er nicht, dafür Rhythmus und Stabilität. Aber beides kriegt er nicht mit einem Spiel. Entscheidend ist, dass er in der Vorbereitung fit wird. Wird das in Südtirol nichts, macht es keinen Sinn. Aber wenn die Torwartfrage das einzige ist, das uns beschäftigt, können wir anfangen, den fünften Stern auf das deutsche Trikot zu sticken. Selbst wenn sich Marc-André ter Stegen wehtäte, müsste man ja nicht lamentieren.
-Wer sind Ihre Streichkandidaten?
Das wäre jetzt nicht fair. Sebastian Rudy hat bei Bayern wenig gespielt. Er weiß selber, dass er deshalb angreifbar ist. Aber bei ihm gibt es auch viele Argumente, wie bei jedem, der nominiert wurde. Jeder, der ab jetzt noch dabei ist, hat eine WM-Chance verdient. Es ist keiner dabei, bei dem ich sage: Wie kam Löw auf den?
-Und wer sind die Korsettstangen von Löw?
Wenn Neuer nicht spielt, ist er ein Verlust. Aber ter Stegen ist zu einem internationalen Top-Torwart gereift, da mache ich mir keine Sorgen. Es wäre natürlich ideal, wenn du das Trio Neuer, Jerome Boateng und Mats Hummels hinten zusammen hast. Mit so einem Dreieck gewinnst du eine WM. Toni Kroos und Sami Khedira haben schon viel bei internationalen Klubs von der Welt gesehen und sind trotzdem nicht satt, das macht sie zu Typen und Führungsspielern. Thomas Müller ist als Freigeist unverzichtbar. Du darfst ihn nur nicht vorne im Sturmzentrum missbrauchen. Auf diese Figuren baut Löw zurecht. Und all die Kimmichs dieser Welt toben sich um diese Stützen herum aus.
-Ist Müller gereifter und wichtiger denn je?
Kann man sagen, ja, Er duckt sich nicht weg. Mit den Ansprüchen ist er besser geworden. Und er hat jetzt auch diese Autorität, dass er im Zweifel sagt: „Parkt mich nicht auf einer Position, die mir nicht liegt!“ Seit er nicht mehr so Verfügungsmasse ist, irgendwo auf der Neun oder Sieben, ist er unschätzbar wichtig.
-Wer können die Überraschungen werden? Leroy Sané, Marco Reus?
Reus würde ich gerne mal bei so einem Turnier sehen. Beides sind Spieler für spezielle Momente. Sané ist noch ein Kinderfußballer, Reus hat genauso etwas Kindliches, ich meine das als Kompliment: Sie können bei den Gegnern ordentlich Chaos anrichten.
-Wie sehen Sie die Aufregung um die Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Premier Recep Erdogan?
Beide können mir nicht erzählen, dass sie nicht wussten, wo sie da hinfahren. Und Herr Erdogan ist eben nicht ein Präsident wie jeder andere. Das ist nicht okay. War das von den beiden mutwillig oder dämlich? Das Abendland wird an der Sache nicht zugrunde gehen, aber ein paar Gedanken mehr hätten den Beiden im Vorfeld sicher nicht geschadet. Zumal man damit Wasser auf die Mühlen von Dumpfbacken liefert, die kein Mensch braucht.
-Ist Deutschland bei der WM 2018 Top-Favorit?
Lassen Sie das „Top“ weg, so sage ich ja. Deutschland, Spanien oder Frankreich – einer aus dem Trio wird es. Brasilien traue ich es nicht zu, und die anderen sind so geheime Geheimfavoriten, dass sie es selbst nicht wissen. Mir fällt kein Argument gegen eine Titelverteidigung ein.
Interview: Andreas Werner