„Bayern konnte und musste Kovac holen“

von Redaktion

Reiner Calmund über die Logik des Trainerwechsels, unberechtigter Kritik an „Brazzo“ und Leverkusens Mini-Chance

München – Reiner Calmund ist ein vielbeschäftigter Mann – das beweist allein sein Programm am letzten Wochenende. Nach dem achtstündigen Bundesliga-Marathon als Experte bei „Sky“ ging es am Sonntag nach Leipzig. Auch rund um die Pokal-Halbfinals ist die Meinung des 69-Jährigen, lange als Leverkusener Geschäftsführer aktiv, gefragt.

-Herr Calmund, Leverkusens Start in die „Wochen der Wahrheit“ hätte besser nicht laufen können. 4:1 und 4:1. Eine Kampfansage?

Die 4:1-Siege gegen Leipzig und Frankfurt waren Gold wert, gegen direkte Konkurrenten im Kampf um die Teilnahme an der Königsklasse. Wichtige Erfolge, die auch für viel Selbstvertrauen gesorgt haben. Das Pokalspiel gegen die Bayern steht natürlich trotzdem unter anderen Gesetzen.

-Ist die Leverkusener Saison schon eine gute – oder entscheiden darüber diese beiden Wochen?

Knapp vier Wochen vor Saisonende scheint in Leverkusen wieder die Sonne. Nach der letztjährigen Gurkensaison begeistert die junge Bayer-Truppe seine Fans mit erstklassigem Tempo-Fußball. Das erste Ziel Europa League hat man praktisch erreicht – und die Chancen auf eine Champions-League-Qualifikation sind gut.

-Nach dem 4:1 gegen Frankfurt sagte Heiko Herrlich: „Womöglich treffe ich Niko Kovac noch mal in dieser Saison.“ Er spekuliert auf das Pokalfinale in Berlin.

Warum denn nicht? Heiko Herrlich ist in Leverkusen voll angekommen, ich finde, er ist ein ausgezeichneter Cheftrainer. Und ich finde es sehr gut, dass Herrlich sich vor dem Halbfinale gegen den großen Favoriten mutig zeigt.

-Wäre das Aus gegen die Bayern eine Enttäuschung – oder der normale Lauf der Dinge im aktuellen deutschen Fußball?

Eine Niederlage im DFB-Pokal-Halbfinale ist immer eine Enttäuschung, auch wenn der Gegner Bayern heißt. Weil in diesem einen Spiel halt immer alles möglich ist. Das ist ja nicht nur eine Floskel.

-Die letzten Aufeinandertreffen der beiden Teams im Pokal sind schon ein paar Jahr her . . .

. . . und die Ergebnisse waren knapp. 2009 hat Bayer die Münchener im Viertelfinale 4:2 besiegt. Für Leverkusen erzielten unter anderem Vidal und Kießling die Tore, für die Bayern Lucio und Klose. 2015 gewann dann Bayern mit Pep Guardiola 5:3 im Viertelfinale in Leverkusen – aber erst nach Elfmeterschießen.g

-Vor dem Derby gegen Köln sprachen Sie von Ihrem „Bayer-Unterhemd“. Ist das nur bei besonderen Spielen im Einsatz?

Aber klar. Ich war rund 25 Jahre für Bayer Leverkusen in der Vereinsführung tätig. Das ist ein halbes Berufsleben und verbindet, von daher drücke ich meinem Verein in jedem Spiel die Daumen.

-Also auch gegen Bayern, wo Leverkusen mehr als das berühmte Quäntchen Glück braucht?

Natürlich, ganz klar, ohne Wenn und Aber. Nur in der Champions League drücke ich Bayern alle Daumen und dicke Zehen (lacht).

-Kann man sich eine Bayern-Niederlage gegen Leverkusen überhaupt vorstellen?

Nur sehr schwer – aber nichts ist unmöglich.

-„Die Zeichen stehen auf Triple“, wurde nach dem 5:1 gegen Gladbach gesagt.

Die Chancen sind sehr gut, allerdings braucht man für so einen gigantischen Erfolg in der Weltspitze trotz aller Qualität eine große Dosis Glück.

-Wo – außer in der Trainerpersonalie – sehen Sie Parallelen zu 2013?

Der FC Bayern hat einen erstklassigen und international erfahrenen Kader und ein absolutes Top-Mitarbeiter-Team. Ärzte, Therapeuten, Organisatoren und Betreuer. Ganz wichtig ist der gesamte Teamgeist und die aktuelle Form der Mannschaft. Das stimmt alles.

-Was macht Jupp Heynckes besser als Pep Guardiola und Carlo Ancelotti?

Jupp Heynckes war bei Bayern insgesamt erfolgreicher, das Triple ist nicht zu toppen. Aber auch in seiner jetzigen Amtszeit hat er sein Soll schon mehr als erfüllt. Nicht nur durch seine sportlichen Erfolge, er hat dem FC Bayern vor allem als Mensch ein großartiges Image verliehen. Auch das ist wichtig.

-Trotz der beeindruckenden Siege sagen die Bayern immer, sie müssen sich noch verbessern. Wo sehen Sie Potenzial?

Langfristig gesehen gibt es genug Potenzial. Einige Beispiele: Trotz der sehr guten Leistung von Sven Ulreich, können die Bayern Manuel Neuer nicht hundertprozentig ersetzen. Das ist normal – Deutschland wäre bei aller Qualität 2014 ohne Neuer auch nicht Weltmeister geworden. Außerdem muss natürlich auch der Verjüngungsprozess auf höchstem Level funktionieren, Kimmich für Lahm ist ein positives Beispiel. Ich hoffe, dass auch der Generationswechsel von Ribery und Robben auf Gnabry und Coman klappt.

-Das Ziel der Bayern ist es, auch in der Liga nicht nachzulassen, um für die großen Spiele in Topform zu sein. Sind sie das, je näher es auf das Giganten-Treffen mit Real Madrid zugeht?

Viele Bayern-Spieler sind absolute Weltklasse-Athleten, aber eben keine Roboter oder Maschinen. Die Form stimmt – aber es entscheiden auf diesem Niveau Tagesform und Glück über Sieg und Niederlage.

-Gibt es für Sie einen Favoriten?

Ganz klassisch sage ich: 50:50.

-Sind die Bayern nicht besser als im letzten Jahr?

Der Kader war auch in der letzten Saison erstklassig, allerdings zeigt die jetzige Mannschaft mehr Power, Spielkultur und vor allem Teamgeist. Das Ausscheiden gegen Real führe ich aber in erster Linie auf die vielen Verletzungen bei den Leistungsträgern zurück.

-Wie groß ist der Revanche-Gedanke? Karl-Heinz Rummenigge sagte 2017: „Wir wurden beschissen.“

Es gab sicherlich ein paar unglückliche Schiri-Entscheidungen wie den Platzverweis für Vidal, doch noch mal: Im Endeffekt war das Verletzungspech der Bayern ausschlaggebend.

-Die Bayern-Bosse haben stets klare Meinungen, die sie auch gerne kundtun. Nach dem Gladbach-Spiel schimpfte Uli Hoeneß auf Fredi Bobic und die Frankfurter. Er sagte, Bayern habe in der Causa Niko Kovac fair und korrekt gehandelt. Sehen Sie das auch so?

Zunächst einmal waren die Verhandlungen der Bayern mit Niko Kovac völlig legitim, weil er in seinem Vertrag mit Eintracht Frankfurt eine Ausstiegsklausel für einen internationalen Top-Verein hatte. Diese Klausel konnte, durfte oder musste Bayern sogar aufgrund der dünnen Marktlage an erstklassigen Trainern nutzen. Da kann man ihnen absolut keinen Vorwurf machen.

-Wie sehen Sie die Schmierenkomödie um den Zeitpunkt der fixen Verpflichtung von Kovac?

Einer sagt so, der andere so, aber aufgrund der Aussagen von allen Beteiligten gehe ich fest davon aus, dass wie immer im Vorfeld die wichtigsten Punkte wie Laufzeit, Gehalt, Prämien, Kompetenzen ausgehandelt wurden. Das kann im Detail auch der Berater von Niko Kovac mit den Münchnern abgewickelt haben. Niko Kovac hat bei der Pressekonferenz am Freitag seine Unterschrift unter den fixen Trainer-Vertrag mit den Bayern bekannt gegeben. Ich finde es jetzt mühselig und überflüssig, weitere Gespräche oder Termine zu recherchieren

-Wäre es nicht besser gewesen, wenn Niko Kovac die Abläufe der Öffentlichkeit klarer und offener mitgeteilt hätte?

Vermutlich ja, aber es gibt auch im gesamten Wirtschaftsleben die Regel, Abmachungen und Vertragsabschlüsse erst dann bekanntzugegeben, wenn die Tinte trocken ist.

-Wieso gibt es denn solche Kommunikations-Probleme? Glauben Sie Kovac oder Fredi Bobic?

Ich kann die Aufregung von Fredi Bobic verstehen, er hat ja nicht den Vertragsabschluss kritisiert, sondern die Tatsache, dass er von den Medien und nicht von Bayern über diesen Vorgang informiert wurde – und das vor zwei schweren Spielen in einer Englischen Woche. Die Bayern kontern diesen Vorwurf mit der Aussage, dass Kovac Bobic aufgrund ihrer engen Freundschaft persönlich informieren wollte.

Ob Kovac passt? „Carlo Ancelotti lässt grüßen“

-Ganz egal, wie das Ganze abgelaufen ist: Ist Niko Kovac der Richtige?

Er hat seine Qualitäten unter Beweis gestellt und bei Frankfurt seinen Fußball-Trainer-Meisterbrief mit der Note sehr gut abgeschlossen. Das ist kein Zufall. Außerdem hat er die Frankfurter mit ganz wenig Kapital von der Intensivstation in die deutsche Spitzenklasse geführt. Gute Argumente.

-Hasan Salihamidzic, Kovac – Ex-Spieler in wichtigen Funktionen wollten die Bayern immer. Gehen sie den richtigen Weg?

Nach meinen Informationen ist die Bayern Führungs-Etage inklusive Trainer Jupp Heynckes mit der Arbeit von Salihamidzic sehr zufrieden. Ich habe das Gefühl, dass die Arbeit von Brazzo in der Öffentlichkeit nicht richtig gewürdigt wird, er hat mit Bayern die Champions League, den Weltpokal und sechs deutsche Meistertitel gewonnen. Zudem spricht er mehrere Sprachen und war TV-Experte. Die Qualitäten von Niko Kovac sind bekannt, allerdings brauchst du als Trainer auch immer eine Portion Glück – der erfolgreichste Vereins-Trainer der Welt, Carlo Ancelotti, lässt grüßen.

-Der Erste, der Kovac als feststehenden Bayern-Trainer besiegt hat, war Heiko Herrlich. Er macht derzeit ähnlich viel richtig wie Heynckes, oder?

Herrlich jetzt schon mit Heynckes zu vergleichen, wäre übertrieben, aber er macht in Leverkusen einen ausgezeichneten Job. Man kann seine Handschrift erkennen. An das Seuchenjahr zuvor denkt in Leverkusen aktuell niemand mehr.

-Kann Herrlich eine Ära prägen?

Warum nicht? Seine bisherige sportliche Vita kann sich sehen lassen. Heiko hat ja bei mir seinen ersten Profi-Vertrag für Bayer Leverkusen unterschrieben, ich kenne ihn gut. Auch seine schwere Krankheit hat er besiegt und danach eine sehr gute und anspruchsvolle Trainer-Laufbahn hingelegt. Sein Mentor und Freund war dabei Matthias Sammer, aktuell hat er bei Bayer den starken Sportchef Rudi Völler an seiner Seite. Das sind Männer, die den richtigen Weg leiten.

-Wie wichtig war die Vertragsverlängerung von Julian Brandt?

Sehr wichtig, sie war ein Signal für alle jungen Leistungsträger im Team. Mit Tah, Retsos, Henrichs, Havertz, Bailey und Brandt hat man Top-Stars und Nationalspielern um die 20 Jahre im Kader. Dazu kommen mit Leno, Wendell, Kohr, Alario und Volland erstklassige Bundesligaspieler um die 25 – besser geht es in der Altersstruktur nicht.

-Volland ist aktuell top in Schuss. Wie sind seine WM-Chancen?

Kevin steht schon länger im Notizbuch von Jogi Löw. Normal müsste er mit zur WM, aber gerade im offensiven Mittelfeld oder auf der hängenden Spitze hat der Bundestrainer ein Überangebot an international erfahrenen Spielern. Da fällt die Auswahl schwer.

-Ein paar Tore gegen die Bayern würden die Chancen steigern, oder?

Ja, Tore können grundsätzlich nie schaden. Sie würden ihm und dem Team helfen. Obwohl Leverkusen Außenseiter ist, eine kleine Lebenserfahrung zum Abschluss: Wir haben mit Bayer 04 viele Spiele verloren, in denen wir zu 80 Prozent Favorit waren – aber auch einige gewonnen, wo wir nur 20 Prozent Siegchancen hatten. In Bayern sagt man „schaun mer mal“, oder? (lacht)

Interview: Hanna Raif

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