Düsseldorf/Berlin – Jerome Boateng wird das Berlinerische nie aus sich herausbekommen. Diese Art, sich jeder Begeisterung zu verweigern und immer die Kritik gewinnen zu lassen. Was seine Bilanz zum deutschen 1:1 gegen Spanien sei, wurde er gefragt, und der Verteidiger sagte anklagend: „Alles muss besser werden! In jeder Hinsicht. Chancenverwertung, Passspiel, Zielstrebigkeit zum Tor, Umschaltspiel. Zusammenarbeit in der Mannschaft.“
Aber hallo! Solch ein Statement nach diesem Spiel. Es war doch ein freudiges Ereignis, eine Erleuchtung nach dem, was einem in der Bundesliga seit Monaten an fußballerischer Einfältigkeit vorgesetzt wird. Gut 50 000 Zuschauer in Düsseldorf wirkten nahezu ergriffen angesichts dieser Spielkunst, dieser Ballfertigkeit – und auch, weil sie sahen, wie zwei Trainer einen taktischen Wettstreit ausfochten.
Richtig: Es wurden Fehler begangen, das monierten auch andere wie Toni Kroos: „Wir haben am Anfang nicht so gut verteidigt und den Ball, wenn wir ihn hatten, in de Zone gespielt, wo Spanen gepresst hat.“ Doch man muss sehen, auf welchem Niveau das stattfand und dass ja jeder Fehler durch die Leistung eines Gegenspielers erzwungen wird – dann kann man das Spiel so beurteilen, wie Boatengs Abwehrkollege Mats Hummels es tat: Er war begeistert. Auch von der Szene, in der er selbst nicht gut aussah.
Beim frühen 0:1. Hummels erzählte es mit Genießermiene nach. „Es war nicht perfekt verteidigt, das weiß ich. Aber bei Spanien waren Timing von Laufweg und Timing von Pass einfach phantastisch. Iniesta hat mich in dem Moment erwischt, wo ich mich zu Rodrigo umgedreht habe, um zu schauen, wie ich mich positionieren muss – da hat er den Ball gespielt.“ Hummels konnte den Torschuss nicht mehr verhindern. „Doch lieber musst du als Innenverteidiger richtig ackern – das ist viel schöner als ein Spiel, das so vor sich hinplätschert und in dem man nicht richtig gefordert wird. Es macht Spaß, Lösungen zu finden.“
Die deutsche Mannschaft glich den Rückstand aus. Weil Thomas Müller einen Fernschuss versenkte („Ich habe das beim Warmmachen zwei, drei Mal geübt, da kam der Ball noch zu flach“). Und weil sie einen Prozess des Begreifens durchlief, wie man die Spanier wirkungsvoller anpacken kann.
Bundestrainer Joachim Löw hatte sich auf eine Risiko-Variante eingelassen: hoch anzugreifen. Mats Hummels musste zugeben: „Das ist verpufft. Spanien hat es mit dem besten Herausspielen, das ich jemals live auf dem Fußballplatz gesehen habe, gekontert.“ Stürmer Timo Werner sagte: „Wenn bei uns ein Mann einen Tick zu spät kam, hatten die sich schon locker rauskombiniert und sind blank auf unsere Abwehrreihen zugelaufen. Aber wir haben in der zweiten Halbzeit darauf reagiert und sind tiefer angelaufen.“ Der Leipziger fand: „Um so etwas auszuprobieren, sind solche Spiele da. Und wenn es zur Halbzeit 0:3 gestanden hätte, wäre es auch nicht schlimm gewesen – dann hätten wir gewusst, wie wir es nicht machen sollen.“
Nicht gegen Spanien, das, geht man das WM-Tableau durch, ein Halbfinalgegner sein könnte. Doch es könnte noch andere Teams bei der WM geben, die der deutschen Elf mit einem ähnlichen Konzept entgegentreten. „Auch Frankreich oder Argentinien würden versuchen, hoch anzugreifen und uns zuzustellen – darauf müssen wir uns einstellen“, erklärt Jogi Löw und wirkt dabei, als sei es ihm ganz recht, dass die Leute mal gesehen haben, dass ihr Deutschland nicht jedes Team an die Wand spielt. „Wer glaubt, die WM wird eine einfache Geschichte, der täuscht sich gewaltig.“ Spanien ist jetzt schon mal offizieller Co-Favorit.
Der Europa-Welt-Europameister der Jahre 2008, 10 und 12 scheint nach den Jahren der Turniertristesse wieder zu sich gefunden zu haben, Andres Iniesta löste in den Medien seines Landes wahre Hymnengesänge auf seine Person aus – dafür genügte ihm eine grandiose Halbzeit in Berlin. Danach wurde gewechselt – es war ja ein Testländerspiel. Toni Kroos sieht das spanische Nationalteam nicht nur in alter Tiki-Taka-Form, sondern mit erweitertem Repertoire: „Seit sie einen richtigen Mittelstürmer vorne drin haben, ist auch mal die ein oder andere Flanke fällig.“
Bei aller Spanien-Begeisterung: Die Deutschen waren ja auch sehr gut. „Es waren lauter technisch überragende Spieler auf dem Platz“, konstatierte Löw. Und selbst Jerome Boateng räumte ein: „Es war nicht alles schlecht.“
Maximales Lob bei einem Berliner wäre „Da kann man nicht meckern.“ Aber so euphorisch war Boateng nicht mal vor vier Jahren nach dem wesentlich dank ihm gewonnenen WM-Finale. Günter Klein