Kvitfjell – Ein bisschen sah es dann doch so aus, als wüsste Thomas Dreßen nicht recht, wie ihm geschah. Da stand er nun, rechts von ihm der Weltmeister, links von ihm der Olympiasieger, und als die deutsche Nationalhymne am Zielraum der „Olympiabakken“ im norwegischen Kvitfjell erklang, da sang er sichtlich bewegt und konzentriert mit. Erster! Zum zweiten Mal nach seinem Triumph in Januar auf der Streif in Kitzbühel hatte er eine Abfahrt gewonnen.
Eine „verrückte Saison“ sei das, sagte Dreßen am Fuße jener Strecke, wo er zwölf Monate zuvor mit Rang sechs sein bis dahin bestes Ergebnis im Weltcup erreicht hatte, und wo 1994 Markus Wasmeier im Super-G zum ersten seiner zwei Olympiasiege gefahren war. Verrückte Saison? Auf jeden Fall eine historische: Dreßen ist schließlich der erste deutsche Abfahrer, dem in einem Winter zwei Weltcup-Siege in der Königsdisziplin gelangen.
„Es freut mich brutal“, sagte Dreßen, „dass es jetzt nach Kitzbühel nochmal geklappt hat.“ Nach dem Sieg in Kvitfjell kann jetzt keiner mehr behaupten, dass jener auf der Streif nur ein Geschenk des Himmels war. Die Konkurrenz würde das ohnehin nicht mehr tun. „Sein Sieg ist kein Zufall, weil er einer der besten Abfahrer der Welt ist“, sagte Aksel Lund Svindal (Norwegen), Olympiasieger und Dritter hinter Weltmeister Beat Feuz (Schweiz) über den jungen Deutschen.
Dreßen ist eine Ausnahmeerscheinung, wie sie dem deutschen alpinen Ski-Rennsport selten widerfuhr. Sein Erfolg in Kvitfjell war erst der achte Abfahrtssieg eines Deutschen im Weltcup seit 1967. Dreßen ist nun zudem Dritter im Abfahrtsweltcup, und wenn es so bliebe: So etwas ist einem Deutschen noch nie gelungen. Alpin-Chef Wolfgang Maier sieht in dem 24-Jährigen bereits den Nachfolger des derzeit verletzten Felix Neureuther als Botschafter des deutschen Skisports. „Von seiner Art her kann er diese Lücke hinter Felix schließen“, sagte Maier, „die Leute finden Thomas extrem sympathisch. Das ist total schön, das zu hören.“
Dreßen wirkt bisweilen, als könne er das alles noch gar nicht fassen. Stolz sei er, dass „ich da mit dem Beat und dem Aksel auf dem Podium gestanden habe“, sagte er. Die beiden Größen, die beim Weltcup-Finale ab Mittwoch im schwedischen Are noch um den Gesamtsieg in der Abfahrtswertung kämpfen, „sind Heroes für mich“, betonte Dreßen erneut, Feuz und Svindal seien Vorbilder – „auch menschlich“.
Dreßen ist allerdings auch schon selbstbewusst genug zu betonen, dass er jederzeit um den Sieg mitfahren kann, wenn bei ihm alles passt. Nein, wiederholte er, den Sieg setzte er sich „nie zum Ziel“, ihm gehe es immer nur darum, seine bestmögliche Leistung zu bringen, denn: „Das ist das Einzige, was ich beeinflussen kann.“ Und dennoch: „Ich hätte mit vielem gerechnet“, sagte Dreßen über seine Saison, „aber nicht, dass es so gut läuft.“
Dreßen war ja in diesem Winter auch Dritter in Beaver Creek/USA und sehr guter Fünfter bei Olympia gewesen. Und gestern, beim Super-G in Kvitfjell, belegte er beim Sieg von Kjetil Jansrud (Norwegen) Rang acht – so gut war er nie in dieser Disziplin. Andreas Sander (Ennepetal) wurde ebenfalls starker Zehnter.
Sein ursprüngliches Saisonziel hat Dreßen übrigens locker erreicht. Er hatte sich, wie im Vorjahr, für das Finale des Weltcups qualifizieren wollen. Dort dürfen jeweils die 25 Besten pro Disziplin starten – oder alle Fahrer, die mehr als 500 Punkte im Gesamtweltcup haben. Dreßen hat derzeit als bemerkenswerter Siebter 567 Punkte, er könnte in Are also im Riesenslalom und im Slalom fahren. Verrückt.