Zurück in der Balance

von Redaktion

Rekordtransfer Corentin Tolisso, zuletzt aus dem Fokus verschwunden, glänzt gegen Paris als Abräumer und Vollstrecker

von marc beyer

München – Javi Martinez trug in der kalten Dezemberluft eine kurze Hose wie die anderen, aber wie ein Spieler, der gleich loslegen würde, sah er trotzdem nicht aus. Dazu passte die Kapuze nicht, die er sich über den Kopf gezogen hatte, während er in gemächlichem Tempo über den Rasen trabte. Der Baske wärmte sich auf wie ein Mann, der weiß, dass seine Kräfte nicht so schnell gefragt sein würden. Bald darauf nahm er auf der Bank Platz und schaute zu, wie andere die Arbeit verrichteten, die für ihn bestimmt zu sein schien.

Es hat einige erstaunliche Personalien gegeben am Dienstag, aber die Abwesenheit von Martinez im defensiven Mittelfeld war die vielleicht erstaunlichste. Er gilt als einer der Lieblingsspieler von Jupp Heynckes und seine Versetzung von der Innenverteidigung um eine Position nach vorne als ein Schlüssel zum Aufschwung. Die naheliegende Erklärung für seinen Reservistenstatus wäre eine Verletzung gewesen, doch als ein Fernsehmann den Trainer mit dieser Vermutung konfrontierte, lächelte Heynckes milde und antwortete: „Das würde zu lange dauern, wenn ich das erkläre.“

Ein bisschen angedeutet hat er seine komplexen Motive dann schon, sie handelten von zweierlei Aufgabenprofilen in Abwehr und Mittelfeld und davon, dass es im Terminstress der englischen Wochen „opportun“ gewesen sei, „Javi eine Pause zu geben“. Als er so dozierte, wusste Heynckes die Fakten auf seiner Seite. Mann des Abends war schließlich in Corentin Tolisso ebenfalls ein defensiver Mittelfeldspieler.

In einem Spiel, vor dem viel über Transfersummen und Marktwerte debattiert wurde, war das nur angemessen. Mit 41,5 Millionen Euro ist Tolisso (23) im Sommer der teuerste Bayern-Einkauf aller Zeiten gewesen und kam zunächst auch regelmäßig zum Einsatz. Doch ausgerechnet seit Heynckes’ Ankunft, als also alles besser wurde in München, nahmen die Einsatzzeiten rapide ab. Während Javi Martinez in der Hierarchie emporschnellte, schien Tolisso in die zweite Reihe zurückversetzt zu sein.

Der Dienstag hat gezeigt, dass solche Kategorien bei Heynckes nicht viel bedeuten und dass ein Mann, der eben noch aus dem Fokus verschwunden war, im nächsten Moment ein zentraler Akteur sein kann. Er habe schließlich „20 Lizenzspieler“, zu betreuen, argumentierte der Trainer, „fast nur Nationalspieler“. Jeder soll bei ihm zu seinen Einsätzen kommen, aber jeder muss auch individuell betrachtet werden. Der Kolumbianer James oder Tolissos Landsmann Kingsley Coman sind ähnliche Fälle. Beide haben sich in den vergangenen Wochen sichtbar gesteigert, auch am Dienstag zählten sie zu den Besten. Besonders erfreut registrierte Heynckes, dass Coman mit seinen schnellen Füßen nicht mehr nur beeindruckende Sprints hinlegt, sondern auch kluge Zuspiele fabriziert: „Er hat jetzt auch die Übersicht vor dem Tor.“

Beispielhaft war das vor dem 3:1 durch Tolisso, dem der Ball passgenau aufgelegt wurde. Bei ihm hat Heynckes in den Trainingseinheiten immer wieder festgestellt, „dass er ein großartiger Fußballer ist und vor allem Torgefahr ausstrahlt“ (was er auch beim 2:0 unter Beweis stellte). Aber hinter dem Franzosen liegen auch Wochen, in denen er viel Mühe darauf verwendet hat, die Balance zwischen Engagement und Übereifer zu finden. „Mit Coco haben wir viel gesprochen und gearbeitet“, berichtete Sportdirektor Hasan Salihamidzic.

Tolissos Vielseitigkeit hat sich schon vor seinem Wechsel aus Lyon nach München herumgesprochen. Als Abräumer ist er ebenso versiert wie als Ordner und Gestalter. Manchmal gehen aber die Gäule noch mit ihm durch. Gegen Paris versuchte er Mitte der zweiten Halbzeit, mit einem nicht sehr geschickten Sturz einen Elfmeter zu erzwingen. Er konnte froh sein, von einer Verwarnung verschont zu bleiben. Es wäre an diesem Abend seine zweite gewesen. Ihm und den Bayern wäre eine sehr schöne Geschichte entgangen.

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