Das Prozent, das Leben rettet

von Redaktion

VON GÜNTER KLEIN

Vieles, was in den vergangenen Monaten bei „Street Football World“ passiert ist, war großartig, aber am allergroßartigsten war der Moment, als Jürgen Griesbeck diese Mail von Giorgio Chiellini in seinem Postfach vorfand.

„Ich heißt Giorgio Chiellini, spiele bei Juventus Turin, finde toll, was Juan Mata macht und möchte auch Geld spenden.“ Jürgen Griesbeck, der Chef von Street Football World, fand das „sensationell“. Nicht mehr er mit seiner gemeinnützigen Organisation musste an fremde Türen klopfen – sondern man bot ihm an, Geld zu geben. „Ein Paradigmenbruch“, sagt er.

Er hat sich dann mit Giorgio Chiellini getroffen, diesem italienischen Fußballer-Haudegen, der deutsche Mannschaften schon ein paarmal genervt hat und von dem auch Griesbeck ein medial geprägtes Bild hatte. Sie kamen ins Gespräch, und irgendwann war es eines „von Mensch zu Mensch und nicht zwischen einer NGO und einem Fußballer“.

Giorgio Chiellini ist einer von mittlerweile über dreißig Fußballspielern (und auch Spielerinnen machen mit), die sich der Initiative „Common Goal“ angeschlossen haben. Die Idee: Fußballer geben ein Prozent ihres Gehalts – es wird von Street Football World für soziale Projekte eingesetzt. Ein Trainer ist auch schon dabei, der junge Hoffenheimer Julian Nagelsmann, und seit Mittwoch dieser Woche auch der erste Funktionär: UEFA-Präsident Aleksander Ceferin.

„Wir hatten ursprünglich gehofft“, so Jürgen Griesbeck, „dass wir bis zur Weltmeisterschaft im nächsten Jahr eine Startelf mit Common-Goal-Spielern haben.“ Die Zielvorgabe hat er viel früher erreicht und weit übertroffen. Common Goal ist zur Erfolgegeschichte geworden. Und nach 15 Jahren, in denen es die Organisation Street Football World schon gibt und in denen ihre Aktivitäten unter dem öffentlichen Wahrnehmungsradar stattgefunden hatten, bekommt Griesbeck nun Anfrage um Anfrage. Neulich war er im ZDF-Sportstudio. Mit Dennis Aogo vom VfB Stuttgart, einem weiteren Mitglied der „Common-Goal-Familie“, von der sie jetzt schon sprechen.

Nun wollen viele wissen: Wer ist Griesbeck, wer sind seine Leute, was treibt sie an?

Am Anfang stand ein Mord in Kolumbien

Ortstermin. Berlin, Stadtteil Moabit, ein Backsteingebäude, altes Gemäuer für die neue Arbeitswelt. Agenturen sind hier, Anwälte haben ihre Büros – und seit zehn Jahren Street Football World. Dritter Stock, unterm Dach, ein großer heller Raum, Loftatmosphäre, offene Küche, ein paar durch Glasscheiben abgetrennte Einzelbüros. Den Fußballbezug erkennt man sofort: an dem Kunstrasenteppich, an den Bällen, die auf den Schränken liegen, den Trikots, die hier hängen. Das Stimmengemisch kündet von Internationalität. Berlin ist die Zentrale von Street Football World.

Jürgen Griesbeck setzt Kaffee auf, frisch importiert aus Kolumbien, mitgebracht von der Dienstreise einer Angestellten.

In Kolumbien hat die Geschichte von Street Football World begonnen. 1994 war das. Jürgen Griesbeck, der in Köln Sportwissenschaft und Romanistik studiert hatte, lebte mit einem Stipendium in Medellin, der Hauptstadt, er wollte promovieren. Kolumbien spielte bei der WM in den USA und schied unglücklich aus, weil Andres Escobar, der Verteidiger, ein Eigentor erzielte. Einige Tage nach der Rückkehr, als das Turnier in Nordamerika noch im Gange war, wurde Escobar erschossen. Hingerichtet quasi.

Griesbeck war damals 28 „und noch grün“, jedenfalls hat es sein Leben auf den Kopf gestellt, als er erkannte, welche zerstörerische Kraft sich aus dem Fußball heraus entwickeln konnte. Es musste allerdings auch eine positive Energie zu gewinnen sein, dachte er, als er in Medellin an einem Fußballplatz vorbeikam. Zwei verfeindete Banden fuhren vor, sie legten die Waffen ab und spielten.

Jürgen Griesbeck schmiss seine akademische Karriere, er wurde Aktivist, Praktiker. „Mein erstes Projekt war ,Fußball für den Frieden’“. In Deutschland gründete er später Street Football World, eine NGO, eine Nichtregierungsorganisation, die gemeinnützige Arbeit verrichten will. In 74 Ländern auf sechs Kontinenten hat sie über zwei Millionen Menschen erreicht mit ihrem Tun.

Street Football World arbeitet mit 170 Organisationen zusammen, von denen man im Lauf der Jahre den Eindruck gewonnen hat, dass man sich auf sie verlassen kann, dass dort keine Gelder versanden. „Die Kompetenz delegieren wir an die lokalen Organisationen“, erklärt Griesbeck. Die Street Football World schafft das Netzwerk, sorgt für Investitionen, betreibt die Medienarbeit, achtet auf die Qualitätssicherung. Wichtig: Fußball muss immer im Spiel sein.

„Fußball“, so erklärt es Griesbeck, „hat eine Magnetwirkung auf Jugendliche, sie fühlen sich darin kompetent.“ Fußball hat man gemeinsam, Fußball schafft Vertrauen – und die Motivation, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die die Zielgruppe sonst nicht erreichen würden. Die Themenlagen sind regional natürlich verschieden: Kampf gegen HIV in Afrika, der Israel-Palästina-Konflikt im Nahen Osten, die Landminen in Kambodscha, Obdachlosigkeit in New York.

Ein Beispiel aus der Praxis: „In den südafrikanischen Townships wissen viele Menschen nicht, ob sie HIV-negativ oder -positiv sind. Gehen sie zum Test in ein Krankenhaus, sind sie schon stigmatisiert.“ Also gehen sie erst gar nicht. Street Football World und seine lokalen Partner haben HIV-Tests dann rund um Fußballveranstaltungen angeboten. Wahrscheinlich haben sie Leben gerettet, ganz sicher haben sie „die Lebensumstände von vielen Menschen verbessert“, so Jürgen Griesbeck. Darum geht es. Seine Mitarbeiter in Berlin oder den Außenbüros in Kapstadt, New York und Tokio, seien missionarisch getriebene Menschen, die meisten sind gar nicht so sehr fußballaffin, wie man das bei einer Firma mit diesem Namen erwarten würde.

Jürgen Griesbeck wird als „Sozialunternehmer“ bezeichnet. Findet er gut, er würde sich selbst auch so nennen. Er will wirtschaftlich erfolgreich sein, er will seinen Leuten ein anständiges Gehalt bezahlen, „von dem sie eine Familie ernähren können“, doch es geht nicht um Rendite, sondern darum, „dass wir Wirkung erzielen“. Soziale Wirkung.

Vom Fußball spricht Griesbeck offen als „Industrie“. Es ist eine Industrie mit Wachstumsraten, die viele, auch die Fans, als obszön empfinden. Bei Street Football World hat man sinniert, dass von dem unvorstellbar vielen Geld doch etwas in den sozialen Kreislauf kommen müsste. Schließlich, sagt Griesbeck, sei Fußball ein Produkt, das sich von den anderen in diesem Punkt unterscheide: „Alle sind Eigentümer.“

Wäre eine Zwangsbesteuerung von Gehältern der gangbare Weg? Und was wäre die Marke: 0,1 Prozent, ein Prozent, zehn? Ja, ein Prozent wäre okay. Ein Fußballprofi, der zehn Millionen Euro verdient, müsste doch 100 000 abgeben können.

Vor ein paar Monaten wurde Street Football World auf Juan Mata aufmerksam. Spanier, Mittelfeldspieler, angestellt bei Manchester United. Mata sagte in einem TV-Interview, dass er auch finde, dass zu viel Geld im Fußball sei und er kein Problem hätte, wenn ihm das Gehalt gekürzt und anderen Leuten geholfen würde. Street Football World wurde bei Juan Mata vorstellig. Man kam zusammen. Er ist das prominente Gesicht der Initiative Common Goal geworden. Goal heißt Tor und Ziel.

Es war aber schwierig, den zweiten und dritten Spieler zu gewinnen. Street Football World bekam zu spüren, wie die „Industrie“ arbeitet. Wie Berater das meiste an ihre Klienten gar nicht herankommen lassen. Das Projekt stagnierte. Griesbeck fragte Mata, ob er notfalls auch den Einzelkämpfer geben würde.

Es kam zu einer zufälligen zeitlichen Koinzidenz. Für 4. August um 14.30 Uhr hatte Street Football World die Bekanntgabe des Projekts Common Goal mit Juan Mata angesetzt; eine halbe Stunde zuvor trat Neymar vor die Fußballwelt, der 222-Millionen-Euro-Wechsel des Brasilianers von Barcelona zu Paris St. Germain war fix.

Was gezahlt wird, basiert auf Vertrauen

Die Gesellschaft hatte nun eine Geschichte von Maßlosigkeit und bösem Geld – und das „alternative Narrativ“ (Griesbeck) um Juan Mata. Der Profi, der gibt. Und auch wenn es so nicht geplant war: Das war der Durchbruch. Mats Hummels machte als erster aus der Bundesliga mit, weitere schlossen sich an. Auf einmal meldeten sich auch Berater, die sagten, ihre Spieler wollten helfen. Und Chiellini schrieb selbst. Griesbeck: „Der hockt sich nachts hin, ohne Berater, und schreibt in einer für ihn fremden Sprache, dass er was tun will.“ Die Fußballer verstehen, „dass sie etwas hinterlassen können“.

Jürgen Griesbeck hat nun plötzlich Kontakte, die zuvor unvorstellbar waren. Und er weiß, was die Stars der Szene verdienen, oder? Er lächelt: „Nein. Wir schließen keine Verträge mit den Spielern, wir lassen uns keine Kontoauszüge zeigen. Alles basiert auf Vertrauen, es sind Vereinbarungen, die nicht rechtlich bindend sind.“ Die Spieler können auch Einfluss darauf nehmen, wo ihr Geld angelegt wird. In welcher Region, für welche Projekte genau. Street Football World unterbreitet Vorschläge.

Die Geschichte, dass „99 Prozent das neue 100 Prozent sind“, läuft gut, aber sie soll noch nicht enden. „Common Goal lädt zum Träumen ein“, sagt Griesbeck und breitet seine Utopie aus. Dass die Industrie Fußball grundsätzlich ein Prozent abgibt in einen großen Fonds. Ein Prozent nicht nur aus den Gehältern, sondern auch aus den Transfers, den Fernseheinnahmen.

Das wäre eine neue Dimension – auch für Street Football World. Der Charme der Freiwilligkeit ginge verloren, die Anmutung von Unschuld, die Griesbecks Organisation umgibt, auch wenn sie bereits mit Institutionen wie FIFA, UEFA und Premier League zusammenarbeitet. Street Football World und Common Goal würden selbst Teil der Industrie werden.

„Wir wollen raus aus der Ecke des Gutmenschentums“, sagt Griesbeck. Es würde ihm auch nicht so gefallen, wenn man ihn einen „Weltverbesserer“ nennen würde. Der Begriff trägt das Misslingen in sich. Zu oft hat er gehört: „Ist ja ganz schön, was ihr macht, aber nicht wichtig.“

Es ist aber wichtig. Dort, wo das Geld ankommt. Und es könnte wichtig sein für den Fußball, der gehörig aufpassen muss, dass er sich seinem Publikum nicht entzieht. Jürgen Griesbeck sagt, wie der Fußball sein Geschäft verstehen sollte: „Das eine Prozent Spende könnte auch eine Investition sein.“

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