Die Bayern beenden ein Missverständnis

Mysterium Ancelotti

von Redaktion

Zu Beginn eine kleine Zeitreise in den Herbst 2015. Nachdem Pep Guardiola dem FC Bayern mitgeteilt hatte, dass er seinen Vertrag nicht verlängert, hatten die Münchner Bosse ein Problem: Wer soll das Erbe antreten? Carlo Ancelotti, der große Carlo Ancelotti, war im Grunde alternativlos. Man brauchte einen edlen Namen, man brauchte einen Mann mit Erfahrung, und man erhoffte sich von dem Italiener, dass er sich als Mix seiner Vorgänger etablieren würde. Eine eigene Kreation aus dem fordernden Guardiola und dem väterlichen Jupp Heynckes, das hätte passen können. Was für ein Missverständnis.

Carlo Ancelotti ist seit gestern Geschichte, und zuletzt hat sich der 58-Jährige als Mysterium erwiesen. In der heutigen gläsernen Zeit glaubt man oft, alles bereits zu wissen, ehe man sich begegnet. Ancelotti eilte ein Ruf voraus, der sich im Nachhinein irgendwo zwischen Mythenbildung und Interpretationen verliert. In München rätseln die Leute nun, wer das eigentlich war: Souveräner Allesgewinner – oder ein vom Glück geküsster Gaukler? Alles ist drin.

Fest steht auf jeden Fall, dass Ancelotti vor allem in den letzten Monaten auf erschreckende Art alle Qualitäten verlor, für die er zuvor gerühmt wurde. Als die Bayern-Bosse am Mittwochabend die Aufstellung für die Partie in Paris in die Hände bekamen, staunten selbst sie: Wie kann ein so erfahrener Trainer mit einem Schlag so viele Führungsspieler vergraulen? Noch dazu, wo Ancelotti doch als der Typ Coach gilt, der seine Stars bei Laune halten kann.

Ancelotti verlor merkwürdigerweise zusehends seine Kernkompetenz als Seelenstreichler, doch schon zuvor war sein Scheitern programmiert. Schneller als gedacht benötigten die Bayern einen Erneuerer, der ursprüngliche Plan, die Altstars noch einmal im Laissez-Faire auf Europas Thron zu führen, war nicht mehr realisierbar. Und hier hatte man in Ancelotti den falschen Mann. Er ist kein Entwickler.

Nun beginnt die Suche nach einem neuen Mann. Die Bosse wären gut beraten, sich dabei an Pep Guardiolas Erbe zu orientieren. Sie brauchen einen Coach, der die Philosophie des Katalanen fortführt. Als Guardiola sich einst mit Thomas Tuchel bei einem gemeinsamen Essen über Taktikfragen austauschte, verschoben beide leidenschaftlich Salz- und Pfefferstreuer. Ancelotti benutzte beides eher nur zum Würzen seiner Lieblingsgerichte.

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