München – Es gibt Tage, an die möchte man sich in seinem Leben nicht mehr allzu gerne zurückerinnern. Und jeder, der schon einmal unters Messer musste, weiß, dass jene dazugehören, an denen man aus einer Vollnarkose erwacht ist. Wenn man müde, regungslos und in Trance in einem Krankenbett liegt, starke Medikamente bekommt und einen noch dazu mindestens ein Körperteil höllisch schmerzt, muss man sich schon arg anstrengen, um Gefühle und Gedanken nicht ins Negative abdriften zu lassen.
Andreas Bretschneider kennt die Situation nur zu gut, gleich zwei Mal hat er sie in den vergangenen neun Monaten erlebt. Vor Weihnachten musste sich der Turner an der linken Schulter operieren lassen, im Februar folgte die rechte. „Eine schöne Zeit“, sagt der 28-Jährige, „war das sicher nicht.“ Trotzdem ist es für ihn keine Überraschung, dass er gut ein halbes Jahr nach der zweiten OP im Kader für die Einzel-WM steht, die ab dem 2. Oktober in Montreal stattfindet. Er sagt: „Es gab genau eine Person, die daran geglaubt hat. Das war ich.“
Heute geht es also los nach Kanada. Und mit an Bord in der DTB-Riege ist neben Andreas Toba – dessen Comeback große Wellen schlägt – auch Bretschneider. Dass der Sportsoldat aus Chemnitz nicht so stark im Mittelpunkt steht wie der „Held von Rio“, sieht er selbst als Vorteil an. „Ich mag es nicht, wenn sich alles um mich dreht. So kann ich mich befreiter und beruhigter vorbereiten“, sagt er. Das hat ihm auch schon bei der Qualifikation im August in Stuttgart in die Karten gespielt. Selbst da hatte ihm noch kaum einer zugetraut, zum Höhepunkt des Turn-Jahres wieder auf Wettkampfniveau zu sein. Er konterte mit einer Übung, die sogar international konkurrenzfähig ist.
Wenn die Titelkämpfe am kommenden Montag für die deutschen Herren beginnen, ist Bretschneider neben dem Unterhachinger Marcel Nguyen (Barren) die einzig echte Medaillenhoffnung des DTB. An seinem Paradegerät Reck stand er bisher meist im Schatten des zurückgetretenen Olympiasiegers Fabian Hambüchen, nun hofft er, „auch mal zu knipsen, wenn es darauf ankommt“. Sein Schwierigkeitswert von 6,6 gehört zu den höchsten der Welt, sein Element – der „Bretschneider“, ein Kovacs-Salto mit zwei Längsachsendrehungen – ist ein echter Hingucker. Wenn er die Kür durchbringt, ist der Finaleinzug realistisch. „Vorne mitmischen“ heißt das Ziel.
Man merkt Bretschneider an, dass er sich derzeit selbst ein wenig zügeln muss – in vielerlei Hinsicht. Im Training muss er aufpassen, „dass ich nicht zu viel mache. Das fällt schwer.“ 7,5 Mal so hoch wie die Erdbeschleunigung ist die g-Kraft, die nach Flugelementen auf seine operierten Schultern wirkt; er sollte ihnen nicht zu viel zumuten. Zumal er weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Gelenke das schon wieder mitmachen. Deshalb sagt er auch: „Sieben Monate nach zwei Schulter-OPs macht es keinen Sinn, über Medaillen zu sprechen.“
Beim Weltcup in Paris vor knapp zwei Wochen merkte Bretschneider beim Abgang, „dass konditionell noch Einiges fehlt“. Der Sturz kostete ihn eine vordere Platzierung, „für den Kopf aber war der Auftritt sehr gut“. An die Operationen erinnern heute nur noch zwei Narben. Und inzwischen glauben auch andere an ihn als nur er selbst.