Rosenheim – Wohnungen, die sich als Bruchbuden herausstellen. Zweizimmerwohnungen für mehr als 1000 Euro Warmmiete pro Monat: Die Wohnungssuche in Rosenheim ist oft aussichtslos. Insbesondere für Menschen mit wenig Geld und einem Handicap – oder dem, was Vermieter dafür halten. Marlena Hellwig (43) kennt das. In ihrer Not hat sich die alleinerziehende Mutter einer mehrfach schwerstbehinderten Tochter (15) mit einem Brief an Rosenheims Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer (CSU) gewandt – und ihn auf Facebook veröffentlicht.
Hellwig macht Frust auf Facebook Luft
Es ist ein Fall, der für Aufsehen sorgt – vor allem in den sozialen Medien. Bislang 450 Likes, über 600 Kommentare und knapp 2800-mal geteilt: Als Marlena Hellwig mitten in der Nacht ihrem Frust auf Facebook Luft machte, hätte sie niemals damit gerechnet, dass sich so viele Menschen für ihr Schicksal interessieren. „Ich wusste einfach nicht mehr weiter“, sagt sie. Begründet damit die Entscheidung, ihr Privatleben mit fremden Menschen im Netz zu teilen.
Seit neun Jahren wohnt Hellwig, gemeinsam mit ihrer mehrfach schwerstbehinderten Tochter Alia (15) in der Rosenheimer Innenstadt in einer Vierzimmerwohnung. Die Wohnung sei bezahlbar, weise aber deutliche Mängel auf, sagt sie. Trotzdem fühlen sich Tochter und Mutter wohl. Umso größer ist der Schock, als Hellwig ein Kündigungsschreiben erhält, mit der Aufforderung die Wohnung bis zum 31. Dezember 2019 zu übergeben. Der Grund: Der neue Vermieter will das Gebäude vollständig umgestalten, will den Grundriss verändern, Heizung und Elektrik erneuern. In der Folge werden sich die Mietkosten erhöhen, heißt es in dem Kündigungsschreiben. Zusätzliches Geld, das Marlena Hellwig nicht aufbringen kann. Nach eigener Aussage ist es für sie aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich, zu arbeiten. Vor allem auch, weil Alia sehr viel Unterstützung im Alltag braucht. Marlena Hellwig bezieht Hartz IV und bekommt zusätzliche finanzielle Unterstützung. Etwa Pflegegeld für Alia.
Gleich nachdem sie die Kündigung erhalten hatte, machte sich Marlena Hellwig auf die Suche nach einer neuen Bleibe. Marlena Hellwig sucht nach einer Drei- bis Vierzimmerwohnung, mit Nachbarn, die kein Problem mit einem schwerstbehinderten Kind haben. Die Wohnung müsse deshalb so groß sein, weil ihre Tochter einen eigenen Snoezelenraum brauche, in dem sie sich zurückziehen und entspannen könne.
Im Internet schaute Hellwig nach Alternativen, sprach mit Immobilienmaklern und wendete sich an das Sozialamt. Alles ohne Erfolg. Die meisten Wohnungen seien zu teuer gewesen, seien zudem nicht geeignet für ein schwerstbehindertes Kind. Alia ist Autistin, geistig behindert, taub und stumm. Sie schläft nicht durch, klopft oft und viel an Wände, aber auch an Tische und andere Gegenstände. Sie habe Schwierigkeiten mit dem Laufen, sei zudem hyperaktiv. Die Liste ist lang, die Situation schwierig.
Hellwig schreibt Bewerbungen, besichtigt Wohnungen. Mit jeder Absage wird sie verzweifelter, hoffnungsloser. Mit Schrecken erinnert sie sich an den Vermieter, der ihre Lage mit dem Ratschlag kommentiert: „Lassen Sie sich doch gleich eingraben.“ Nach und nach gerät die Wohnungssuche zum Albtraum.
Bis schließlich die Verzweiflung der Mutter so groß ist, dass sie nachts ihr Handy in die Hand nimmt und ihren verzweifelten Hilferuf auf Facebook postet. Adressiert an die Oberbürgermeisterin persönlich. In ihren Zeilen erklärt Hellwig die Situation, sie macht ihrem Unmut Luft. Sie verstehe nicht, warum bezahlbarer Wohnraum in Rosenheim fast nicht existiere. Immer wieder stellt sie direkte Fragen, will wissen, ob sie durch die Behinderung ihrer Tochter weniger wert sei. Der Brief ist emotional, endet mit den Worten: „Ich bin eine verzweifelte Mutter, die für ein halbwegs normales Leben für ihr Kind kämpft.“
Als Hellwig am Morgen danach aufwacht und auf ihr Telefon schaut, kommen ihr die Tränen. Hunderte Menschen haben unter ihrem Beitrag kommentiert, schicken Nachrichten und versprechen, ihr bei der Wohnungssuche unter die Arme zu greifen. Einer davon: Oberbürgermeisterkandidat Andreas Kohlberger (AfD). Er habe ihr seine Hilfe angeboten, sowohl bei der Wohnungssuche, als auch beim späteren Umzug. „Ich bin kein Fan der AfD, aber hier geht es um Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft“, sagt Hellwig.
Stadt reagiert
auf offenen Brief
Außerdem hätten ihr fremde Menschen ein Gästezimmer angeboten, versprochen, ihr Möbel und Kleidung zukommen zu lassen. Unter den Nachrichten seien auch etliche Wohnungsangebote gewesen. Einige habe sie sich bereits angeschaut, entschieden sei aber noch nichts.
Und auch die Stadt Rosenheim habe reagiert, habe die alleinerziehende Mutter sofort kontaktiert, wie Pressesprecher Thomas Bugl mitteilt. Hellwig habe im Wohnungsamt vorgesprochen. Glaubt man Marlena Hellwig, ist dabei allerdings „nicht viel rausgekommen“.
Trotzdem ist die 43-jährige Rosenheimerin nicht mehr ganz so verzweifelt wie in jener Nacht. „Es gibt Menschen, die dich nicht kennen und dir trotzdem helfen wollen“, sagt sie. Und hofft nun letztlich, dass unter den Wohnungsangeboten, die sie auf Facebook bekommen hat, auch ein neues Zuhause für sie und ihre Alia ist.