Stadtgeschichte

Nach Zwangsarbeit Bürger zweiter Klasse

von Redaktion

Tagebuch des Niederländers Karel Hobo jetzt im Rosenheimer Stadtarchiv zur Ausleihe

Rosenheim – Karel Hobo war 16 Jahre alt, als die Nazis ihn in Rotterdam von der Straße weg mitnahmen. Sie quetschten ihn mit vorgehaltener Waffe bei eisiger Kälte in einen Viehwaggon und schickten ihn als Zwangsarbeiter nach Deutschland. Bei Dachau harrte er in einem Durchgangslager aus. Die letzten Kriegsmonate 1945 mit heftigen Bombenangriffen erlebte er in Rosenheim. In der Weihnachtsausgabe 2017 hat das Oberbayerische Volksblatt über das Schicksal des heute 89-Jährigen berichtet. Jetzt liegen im Rosenheimer Stadtarchiv sein auf Englisch zusammengefasstes Tagebuch und die deutsche Übersetzung dazu vor.

„Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass sich jemand noch dafür interessiert, was mir zugestoßen ist“, kommentierte der seit 1952 in Neuseeland lebende Rentner die Veröffentlichung. Viele Leser wollten wissen, wie es mit Karel Hobo weiterging, nachdem die Amerikaner am 2. Mai 1945 über schneebedeckte Straßen in Rosenheim einmarschiert waren. Die Aufseher waren geflüchtet, die Zwangsarbeiter der Reichsbahn – Ukrainer und Russen, sowohl Männer als auch Frauen, Franzosen, Italiener, Holländer – blieben sich selbst überlassen.

Hobo notierte damals in seinem Tagebuch: „Heute war ein Tag der Befreiungsfeier und wir aßen und tranken alle möglichen Delikatessen und alkoholischen Getränke. Französischen und deutschen Wein, Fleisch und Wurst, Gebäck und Kekse.“ Die Insassen der Baracken in der Nähe des Bahnhofs waren mit den Amerikanern „einkaufen“ gegangen. Die Soldaten hatten die Schlösser der Rolltore vor den Läden und die Schaufenster zerschossen. Die befreiten Zwangsarbeiter nahmen sich, was ihnen gefiel. „Es fühlte sich nicht an wie stehlen, nachdem uns die Deutschen so lange unterdrückt und hungern hatten lassen. Wir empfanden, dass wir endlich in der Lage waren, uns das zurückzuholen, was uns zustand“, schrieb Hobo.

Eines habe ihnen allerdings Angst gemacht. Es hieß, in den Wäldern, in die sie sich zuvor häufig vor den Luftangriffen geflüchtet hatten – der Zutritt zum Luftschutzbunker war ihnen verwehrt – hätte sich ein SS-Bataillon versteckt. Es würde sich hin und wieder in Zivilkleidung unter die Bevölkerung mischen, um Ausländer, aber auch deutsche Plünderer zu jagen und zu erschießen.

SS-Männer

im Hinterhalt?

Dem Rosenheimer Historiker Walter Leicht ist das neu: „Davon habe ich noch nie gehört. Das muss aber nicht heißen, dass es nicht stimmt. Ich weiß lediglich bisher von keiner anderen Quelle.“ Karl-Heinz Brauner, Vorsitzender des Historischen Vereins, kennt solche Schilderungen aus anderen Städten. Vier Amerikaner kamen in die Baracken der Zwangsarbeiter und brachten ihnen zehn Gewehre und Munition, damit sie sich schützen könnten für den Fall, dass die SS-Leute dort auftauchen sollten. Karel Hobo und seine Kameraden ließen danach das Plündern vorsichtshalber sein. Schließlich hörten sie, die Amerikaner hätten den SS-Hinterhalt im Wald ausgehoben.

Im Mai 1945 kehrte der 16-Jährige zurück in seine Heimatstadt Rotterdam – und musste sich von einem holländischen Kommandanten fragen lassen, warum er überhaupt nach Deutschland gegangen sei. Er hätte doch weglaufen können, hielt ihm sein Landsmann vor. Hobo sagte nicht viel und dachte an die Deutschen mit ihren Gewehren im Anschlag, auch an die Leidensgenossen, die bei Fluchtversuchen erschossen worden waren.

Dass man ihm wie vielen anderen eine gewisse Freiwilligkeit unterstellte und ihn daheim als „Bürger zweiter Klasse“ einstufte, war ihm egal: „Hauptsache, wieder zu Hause.“ Die Mutter und die Schwestern rannten mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, als sie ihn kommen sahen. Allen liefen Tränen über das Gesicht.

Hobo fand nach dem Krieg keine Arbeit, wurde im Alter von 18 Jahren zum Wehrdienst in der niederländischen Armee verpflichtet und musste im indonesischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Aufständischen kämpfen. 1952 wanderte er nach Neuseeland aus und fand dort mit seiner Frau Kathleen sein Glück. Sieben Kinder kamen zur Welt, von denen fünf noch leben. Eine ordentliche Berufsausbildung konnte Hobo nicht absolvieren, doch arbeitete er sich über viele Umwege hoch, zog Gräben für das Post- und Telegrafenamt, verkaufte Versicherungen und Schönheitsprodukte, arbeitete als Chauffeur, war für Shell als Zollagent tätig, übernahm eine Agentur des Ölgiganten und machte sich schließlich mit einer eigenen Firma im selben Gewerbe selbstständig.

Obwohl es paradox klingt, denkt der 89-Jährige gern an Rosenheim. Der Hunger, die körperlichen Anstrengungen und die Furcht vor den Bomben treten für ihn heute in den Hintergrund. Lieber spricht er von Menschen, die ihn als 16-Jährigen gut behandelt haben und das waren nicht wenige.

Nach Hobos Beschreibung lagen die Baracken der Zwangsarbeiter im Dreieck zwischen Rappertweg und Kirchbachstraße. Pächter der dortigen Schrebergärten meinen, da irre sich Hobo und verweisen auf ehemalige Unterkünfte an der Ecke Äußere Münchener Straße/ Enzenspergerstraße. Der 89-Jährige ist sich zwar ziemlich sicher, räumt aber ein, dass viel Zeit vergangen ist: „Da muss man einem alten Mann schon verzeihen, wenn er sich vielleicht nicht mehr so ganz genau erinnert.“

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