Samerberg – Heute, 1095 Tage danach, werden sie zusammensitzen, wie so oft. Sie werden reden miteinander, sie werden schweigen. Und eben heute werden sie essen, was Melanie, damals 21 Jahre alt, am liebsten gegessen hat: Hühnerschnitzel in Parmesanmantel.
Die Rüths, also die Eltern Kerstin und Ralf sowie Tochter Chiara, und die Daxlbergers, also Franz und Manuela sowie Magdalena: Sie sind einander näher gekommen, als man das sonst auch unter guten Nachbarn im Dorf finden mag. Dass sie heute zusammen essen, das ist wegen des Tages, der sich heute zum dritten Mal jährt. Es ist der Tag, an dem ein Mann aus Ulm seinen Überholvorgang nicht mehr abbrechen konnte und zwei junge Frauen starben. „Unendliche Traurigkeit“, sagt Manuela Daxlberger: das sei es, was sie spüre. „Nun sind es schon drei Jahre, dass wir weiterleben müssen ohne die beiden.“ Drei Jahre seit dem Unfassbaren.
Unfall mit unfassbarer
Vorgeschichte
Am Abend des 20. November 2016 prallte auf der Miesbacher Straße in Rosenheim der Golf des Ulmers frontal in den Nissan, den Melanie Rüth lenkte. Melanie und ihre Freundin Ramona Daxlberger (15) starben. Ramonas Schwester Magdalena wurde schwer verletzt.
Es war ein Crash mit unbegreiflicher Vorgeschichte, verursacht von Fahrern, die sich und ihr Können überschätzten. Vor einer Woche erst verkündete das Landgericht in Traunstein das Urteil in der Verhandlung gegen zwei junge einheimische Männer. Sie lenkten ihre BMWs nach Überzeugung des Richters so, dass dem überholenden Ulmer das Einscheren im Angesicht des Gegenverkehrs unmöglich wurde. Zwei Jahre und drei Monate muss der eine hinter Gitter, gar zwei Jahre und fünf Monate der andere. Die Eltern umarmten einander danach, sprachen von Erleichterung, davon, dass man nun wieder versuchen könne, ins Leben zurückzukehren.
Dann kam die Nachricht, dass die Anwälte Revision eingelegt hätten.
Ralf Rüth bemüht sich um Sachlichkeit. „Es nimmt dem Ganzen etwas von seiner befriedenden Wirkung“, sagt er. „Aber das ist halt juristisch so.“ Ramonas Mutter dagegen ist fassungslos. „Jeder kann Fehler machen, aber er muss dazu stehen“, sagt sie. „Zweimal bereits gab es ein Urteil, und jetzt winden sie sich schon wieder raus.“
Die Familien finden
Trost im Glauben
Für den 23. November haben die Familien zum Gottesdienst eingeladen, in die Kirche von Törwang (19 Uhr). Ein guter Freund wird Saxofon spielen, andere Freunde werden bayerisch musizieren, mit Gitarre und Hackbrett. Eigentlich hätte es so etwas wie ein Abschluss-Gottesdienst werden sollen. Doch nun steht die Revision im Raum. „Was die uns Familien antun – das ist unvorstellbar“, sagt Manuela Daxlberger an die Adresse der BMW-Fahrer.
Davon, dass die Strafe eine Lehre sein könnte, sind die Eltern nicht mehr unbedingt überzeugt. Nur wenige Tage nach dem Urteil tötete ein Raser in München einen 14-Jährigen. „Unfassbar“, sagt Ralf Rüth. „Die Strafen müssen drakonischer werden.“ „Die armen Eltern“, das kam Manuela Daxlberger und den anderen sofort in den Sinn. Jenen, die dabei waren, als vor drei Jahren die Welt stillstand.
Die Familien hoffen, am Samstag Trost zu finden, in der Gesellschaft vieler Menschen, die ihr Mitgefühl bekunden, aber auch im Gottesdienst an sich. Beide Familien stehen zu ihrem Glauben. „Welcher Gott das zulässt, das haben wir in diesem Moment nicht gedacht“, beteuert Manuela Daxlberger. „Das wäre ja gar nicht auszuhalten.“ „Ohne den Glauben an Gott hätten wir das nicht durchgestanden“, sagt wiederum Kerstin Rüth.
Die Eltern sind überzeugt davon, dass ihre Kinder in ein anderes, ein besseres Leben gegangen sind. „Manchmal erlebt man was – da weiß man, das war sie“, sagt Manuela Daxlberger. Sie hadere nicht, sagt sie, sie spüre auch Dankbarkeit: für Magdalena, die Tochter, die überlebt hat. Fast ein Wunder, wenn man bedenkt, dass ein Gutachter die Überlebenschance bei einem solchen Tempo auf nicht mal fünf Prozent angesetzt hat.
Es ist einiges, was es beiden Familien unmöglich macht, an Zufall zu glauben. Wie sollen sie sich und anderen erklären, dass Chiara schon im Auto saß, dann aber ausstieg und lieber zu Hause blieb, weil sie sich nach dem Reiten nicht landfein fühlte? Wie könnten sich die Daxlbergers erklären, dass Ramona sich so anders, so – sorgfältig verabschiedete? „Wir fahren jetzt, Mama, pfiad euch. Ich hab euch lieb“, habe Ramona gesagt, erinnert sich Manuela Daxlberger. Und sie sagt: „Man spürt ihre Anwesenheit immer noch.“
Ein letzter Gruß aus
dem Restaurant
Weder Franz und Manuela Daxlberger, noch Kerstin und Ralf Rüth haben es bislang übers Herz gebracht, die Unfallstelle aufzusuchen. Drei weiße Kreuze hat dort jemand aufgestellt, die Eltern wissen nicht wer, sie sind aber dankbar für die Anteilnahme. Ein weiteres Kreuz steht im Garten der Rüths. Melanies Kollegen einer Zimmerei in Miesbach haben es angefertigt und den Eltern geschenkt.
„Dort sind wir sehr oft“, sagt Kerstin Rüth. Auch heute werden sie dorthin gehen und an den Abend denken, der das Leben in ein „Davor“ und ein „Danach“ teilte. Kerstin Rüth hütet noch immer die Erinnerung an eine Snapchat-Nachricht ihrer Tochter: Ein Foto aus dem Restaurant Giuseppe in Kolbermoor. Dazu der Spruch: „Essen mit den Besten.“
Vor drei Jahren endete das Leben zweier junger Menschen. Darf man in der Tageszeitung noch Fotos zeigen, auf denen die beiden lachen, auf denen sie für immer jung bleiben? Das fragten Leserbriefschreiber.
Ralf Rüth bejaht entschieden. „Verwendet diese Fotos weiter“, sagt er. Die beiden jungen Frauen seien ja genau so gewesen, so hübsch, fröhlich und unbeschwert. „Die haben Ziele und Träume gehabt, die waren nur gut. Dieses Strahlen – so waren sie, wenn sie ausgeritten sind, wenn sie einen Auftritt mit dem Trachtenverein hatten, wenn sie zur Plattlerprobe gegangen sind. Für uns leben die beiden so weiter.“