Soyen – Als ich vor sechs Wochen, zu Weihnachten, mit einem kleinen medizinischen Team von Humedica e.V. in Java ankam, waren Schwerstverletzte und Tote bereits versorgt und geborgen. Für uns Ärzte ging es nun um Menschen mit nicht verheilten, mit infizierten Wunden, mit Schürfwunden an Armen und Beinen, mit Folgen von Schlangenbissen und landestypischen Erkrankungen. Patienten kamen zu uns mit Durchfall, Husten, Fieber, Herzfehlern, Diabetes. Manche hatten Tumore hinter den Augen oder eine Nierenerkrankung. Andere hatten sich Antibiotika in die Wunden geschmiert.
Abstruse Versuche
der Überlebenden,
sich selbst zu helfen
Es gab abstruse Versuche, sich selbst zu helfen. Der einzige Arzt, der die Menschen bisher versorgt hatte, war durch den Tsunami ebenfalls ums Leben gekommen.
Wir vom Einsatzteam Humedica versorgten zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation Karya Alpha Omega Foundation an neun Orten insgesamt 1500 Menschen. Die körperlichen Leiden waren das eine – die Traumatisierung das andere. Die Trauer der Überlebenden und zugleich ihre Hoffnung, weil sie sich nicht vergessen fühlten, berührten mich auf eine ganz besondere Weise.
Ich glaube, das Zuhören bei jedem Einzelnen, das Erfahren gerade dieser einen Geschichte, schweißte uns als Team zusammen, und ein tolles Team hilft, die Strapazen auszuhalten. Die oft sehr primitiven Unterbringungsverhältnisse, mittelalterliche, oft unbeschreibliche Hygienebedingungen, Lärm und Dreck sind belastend.
Am ersten Tag waren wir unterwegs durch eine vollkommen zerstörte Gegend zu einem höher gelegenen Dorf in der Tsunami-Region: Cimenteng. Dorthin hatten sich Menschen gerettet, und dort schlugen wir unsere mobile Klinik auf.
Was das heißt? Von unserer Partnerorganisation wurdem ein Vorplatz oder ein Haus im Dorf bereitgestellt. Ein Banner von Humedica und eines von Karya Alpha Omega Foundation signalisierten den Patienten: Hier helfen wir. Behandelt wurde auf dem Boden. Wir hatten nur unsere Stethoskope, Blutdruckmessgeräte, einen Ohrenspiegel zur Untersuchung und unsere ärztliche Erfahrung. Verbandsmaterial und Medikamente wurden von Karya Alpha Omega bereitgestellt. Zunächst kamen die Frauen und Kinder – offenbar, um die Lage zu erkunden – , später auch die Männer in Scharen zu uns.
Und dann dieses Gefühl, nirgendwohin zu gehören
Der Ausdruck des Schmerzes in den Gesichtern begegnete uns ständig. Familienmitglieder waren ums Leben gekommen, Häuser zerstört und dann dieses Gefühl, nirgendwo mehr hinzugehören. Wir versuchten neben der medizinischen Versorgung diesen Menschen durch Empathie und Mitgefühl wieder Sicherheit und Hoffnung zu geben.
Wie das möglich war? Zum Beispiel, indem ich fragte: Wie lange leben Sie schon hier? 40 Jahre bereits? Solange ist doch alles gut gegangen. Erinnerungen daran helfen, das Gefühl des Ausgeliefertseins zu mindern.
Eine Geschichte – die von dem Kind Muhati und seiner Familie – bewegte mich sehr. Eine alleinerziehende Mutter kämpfte bei absoluter Dunkelheit und dem Hereinbrechen der gewaltigen Flutwelle um das eigene und das Leben ihrer beiden neun- und fünfjährigen Mädchen. Die 16-jährige Tochter war zu dieser Zeit glücklicherweise bei der Großmutter in Sicherheit. Bei der zweiten Flutwelle wurden ihr die Kinder erneut aus den Armen gerissen. Die Mutter tauchte, rings um sie herum war es stockdunkel. Sie tastete und verzweifelte, tauchte wieder und bekam erst die eine Tochter, dann die andere zu fassen und hob sie hoch. Obwohl ihr das Wasser bereits bis zum Hals stand, hatte sie noch die Willensstärke, beide Kinder über einen Wellblechzaun zu werfen.
Der Zaun hielt die Wasserhöhe auf der anderen Seite etwas niedriger, die Mutter selbst konnte sich mit letzter Kraft ebenfalls retten. Dort wurden die drei dann von einem Auto mitgenommen – in Sicherheit. Vielleicht hatte das leuchtend pinkfarbene Kleid von Muhati, der Neunjährigen, geholfen, die Kinder unter Wasser zu finden. Wie die Mutter das alles schilderte, war ergreifend. Muhati aber war spürbar traumatisiert, die Angst stand ihr im Gesicht.
Als Psychotherapeutin und Psychoonkologin habe ich auch zu Hause mit seelisch verletzten Menschen in existenziellen Krisen zu tun. Von außen gesehen ist das so ähnlich. Man wird mit Situationen konfrontiert, die man nicht ändern kann.
Mutter taucht im Dunkeln verzweifelt nach ihren Kindern
Als Ärztin muss man lernen, das Unabänderliche anzunehmen und trotzdem sein Bestes zu geben – manchmal bedeutet das, einfach nur zuzuhören und da zu sein. Danach aber, bei allem selbst Erlebten, darf ich mein Leben weiterführen, mich an meiner Familie, an Dingen, der Natur, Musik freuen, dankbar und zufrieden sein. Das sind für mich Quellen der Kraft.
Wir haben versucht, Muhati diese Kraft weiterzugeben. Die von Humedica zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel haben wir zur Hälfte für Hilfsgüter vor Ort, zu einem geringen Teil für Logistik genutzt, den großen Rest aber an die Partnerorganisation übergeben. Damit sie Menschen wie Muhati auch künftig helfen kann. Auch haben wir die Namen von sechs Patienten mit schweren Erkrankungen unserer lokalen Partnerorganisation Karya Alpha Omega Foundation übergeben, damit diesen Menschen auch nach unserem Abzug, zum Beispiel durch eine Operation, weitergeholfen wird.
Wie ich zu Humedica kam, und warum ich auf diese Weise helfe? Mit eigener Praxis in Soyen kann ich nur geplant eine kurze Auszeit nehmen. Das ist bei Humedica, einer kleineren, überschaubaren Organisation, möglich. Meine Familie ist damit einverstanden, weil sie weiß, dass es mich zufrieden macht. Es ist auch nicht das erste Mal gewesen. Ich war 2012 in Nepal im Gefängniseinsatz, später auch in Togo, um Gefängnisinsassen medizinisch zu versorgen. Nun kann man sagen: Was macht es für einen Sinn, einen Häftling gegen Krätze zu behandeln, und in einer Woche ist alles wie zuvor? Aber: Es stellt eine Öffentlichkeit her, man spricht im Justizministerium vor, und da kann man schon mal sagen, was nicht in Ordnung ist. Beim großen Erdbeben 2015 war ich dann wieder in Nepal zum Katastropheneinsatz.
Wir wurden auch auf einen Entführungsfall vorbereitet
Die eigene Belastbarkeit und Eignung für diese Einsätze wird zuvor „geprüft“ beim Team-Training von Humedica, bei dem wir eine Woche abgeschlossen im Zeltlager waren. Hohe Sozialkompetenz und Frustrationstoleranz werden durch haarige Übungen auf die Probe gestellt. Wir wurden zum Beispiel auf einen möglichen Entführungsfall vorbereitet. Auch für den Einsatz in Indonesien musste ich mir noch am Tag der Abreise fünf Fragen ausdenken, deren Antworten nur ich kenne, den sogenannten proof of life.
Es liegt an uns, die Welt humaner zu machen. Als Ärztin kann ich ein bisschen was dazu beitragen. Das gibt mir Freude und Sinn im Leben.
Aufgezeichnet: von Elke Wrede-Knopp