Prozess am lANDGERICHT mÜNCHEN

Missbrauch in 1200 Fällen?

von Redaktion

Mutmaßlicher Peiniger bestreitet Vorwürfe – Zehn Verhandlungstage angesetzt

Wasserburg/München – Das Martyrium der heute 25-Jährigen begann auf einem schäbigen Lkw-Sitz, irgendwo auf einem abgelegenen Industrieparkplatz. Mit dem Lebensgefährten ihrer Mutter war die damals Neunjährige im Jahr 2002 nach eigener Aussage mit dem Truck mitgefahren. „Er hatte gefragt, ob ich mitkommen will. Ich fand das cool“, sagte sie später einer Richterin. Der Freund der Mutter habe irgendwann gesagt, dass er ihr etwas zeigen wolle. Dann habe der heute 55-Jährige verlangt, dass sie sich ausziehe. „Er sagte, ich solle mich hinlegen, was ich tat.“ Mehrfach habe er dann sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen.

Als die Videoaussage der Geschädigten am ersten Prozesstag des Verfahrens vor dem Münchner Landgericht vorgespielt wird, verfinstern sich die Mienen vieler Zuschauer. Rund 600-mal soll der 55-Jährige laut Staatsanwaltschaft an der Geschädigten sexuelle Handlungen vorgenommen haben, als diese jünger als 14 Jahre alt war – in vielen Fällen soll er mit dem Kind geschlafen haben. Auch als sie zwischen 14 und 15 Jahre alt war, hatte er laut Anklage in gut 300 weiteren Fällen Sex mit dem Mädchen.

Im Frühjahr 2008 war das Mädchen als 15-Jährige mit ihrer Mutter und dem mutmaßlichen Täter von Ostdeutschland in den Landkreis Ebersberg gezogen. Dort sollen die Übergriffe bis 2010 oder 2011 weitergegangen sein. Zwar ist Sex zwischen einem Erwachsenen und einer Jugendlichen, die 16 oder 17 Jahre alt ist, in der Regel nicht strafbar – die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten jedoch vor, er habe gut 300-mal das bestehende Erziehungsverhältnis zwischen ihm und der Tochter seiner Lebensgefährtin ausgenutzt.

Er habe auch nicht von ihr abgelassen, wenn sie geweint und darum gebeten habe, er solle aufhören, sagte die heute 25-Jährige aus. Der Lkw-Fahrer, der zuletzt im Raum Wasserburg lebte, habe ihr verboten, mit irgendjemandem über das Geschehene zu sprechen. „Er sagte, er würde meiner Schwester wehtun.“

Erst Jahre später fand das mutmaßliche Opfer den Mut, seine schrecklichen Erlebnisse bei der Polizei anzuzeigen. Sie sei damals „versteinert“ gewesen, sagte sie der Richterin auf die Frage, ob sie sich bei den ersten mutmaßlichen Übergriffen gewehrt habe. Weil sie einfach gemacht habe, was der Angeklagte ihr befohlen habe, habe sie sich „jahrelang selbst die Schuld gegeben“.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann nun unter anderem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen in 600 Fällen sowie in 600 weiteren Fällen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern sowie in zwei Fällen eine Vergewaltigung vor. Der Angeklagte bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten.

Oft scheuen Frauen, die nach eigener Aussage Opfer sexueller Gewalt wurden, die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens. Die 25-Jährige sitzt jedoch als Nebenklägerin dem mutmaßlichen Täter schräg gegenüber. Als die Richterin am ersten Prozesstag das Video mit ihrer Aussage vorspielen lässt, muss sie den Gerichtssaal verlassen. Doch die junge Frau wirkt selbstbewusst, will offensichtlich dabei sein, wenn ihrem mutmaßlichen Peiniger der Prozess gemacht wird. Auf dem bereits Ende 2015 von einer Richterin aufgezeichneten Video ist dagegen noch eine in sich zusammengesunkene, schwarz gekleidete Frau zu sehen.

Manche ihrer Aussagen wirken verstörend. Ihre Mutter habe sie teilweise in der Schule krankgemeldet, damit sie mit dem Lkw mitfahren könne. „Und das, obwohl ich sagte, ich will das nicht.“

Am zweiten Prozesstag musste die junge Frau vor Gericht aussagen. Dabei brach sie mehrfach in Tränen aus. Sie sagte, sie sei bis vor zwei Jahren depressiv und selbstmordgefährdet und sogar in der Psychiatrie in Behandlung gewesen. In ihrer Jugend habe sie versucht, sich zu „betäuben“.

Jetzt werden vom Gericht mehrere Gutachter dazu befragt, ob die gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe zutreffen. Das Gericht hat zunächst zehn Verhandlungstage festgesetzt.

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