Schrofensturz am 9. August 1851

Es war ein vermaledeites Jahr

von Redaktion

Es war wirklich kein gutes Jahr – dieses 1851. Keine drei Tage ohne Regen, erzählt man sich in Brannenburg, der Inn seit Längerem über den Ufern. Ende Juli war schließlich absehbar, dass es mit der Ernte nicht weit her sein würde. Wie den Winter überstehen? Und dann kam am 9. August der Schrofensturz. Ein Naturereignis, das bis heute nachwirkt.

Brannenburg – Manche in Brannenburg werden das, was sie in schlaflosen Nächten vom Berg oben hören mussten, nicht richtig zu deuten gewusst haben. Doch beruhigend wird es für sie nicht geklungen haben. Mittlerweile gab es täglich Steinschlag, der zeigte, dass der Schrofenhang in Bewegung war. Immerhin: Steinschlag und Abrutschungen hatte es oben seit jeher gegeben, auch wenn sie in den letzten Wochen deutlich häufiger geworden waren.

Dabei hätte es eine Warnung gegeben, wie die heute 84-jährige Johanna Schwaiger erzählt. Sie hat in ihrer Jugend von ihrer Tante oft vom Schrofensturz gehört, den deren Mutter als Kind noch selbst erlebt hatte. Demnach gab es einen Professor aus München, der über mehrere Jahre immer wieder mal in der Gegend um den Schrofen unterwegs gewesen sei und im Dorf unten schon lange gewarnt habe: „Der Berg kimmt, glaubt’s mas, der Berg kimmt, duats wos.“ Er hatte offenbar erkannt, dass der untere Teil des Schrofens nicht aus festem Fels, sondern aus vergleichsweise labilen tonigen Schichten aufgebaut ist. Das Wasser taucht dort ab und kommt auf der Brannenburger Seite in den Quellen des Saubachs wieder ans Tageslicht. Kommt es aber wie im Jahr 1851 zu wochen-, ja fast monatelangen Regenfällen, wird aus diesem Wasserweg eine Rutschbahn, auf der sich der aufliegende Fels nicht mehr halten kann.

Geglaubt habe dem Gelehrten, so erzählt Johanna Schwaiger, damals keiner. „A kloans Professorl aus München, was werd der scho wissn über unserne Berg“, hätten sie im Dorf gesagt.

Manche glaubten auch dann noch nicht an die Vorhersage, als am Samstag, 9. August, um 10 Uhr vormittags ein Riesengetöse einen größeren Absturz vom Schrofen anzeigte. Ein weiterer Schlag der Natur, passend zu diesem Katastrophenjahr, was sollte es sonst schon sein? Mehr aus Pflichtgefühl denn aus wirklicher Sorge soll sich deshalb der Schloss- und Gutsherr von Brannenburg, Graf Pallavicini, sowohl am Samstag als auch am Sonntag auf den Weg nach oben gemacht haben, um zu sehen, was denn los ist.

Eilends zurücklaufend und bleich wie die Wand soll er den eben aus der Kirche heimkehrenden Brannenburgern zugerufen haben: „Da ist alle menschliche Hülfe vergeblich, da kann nur Gott alleine noch helfen.“ Ein Fläche in der Größe von 20 Fußballfeldern war vom Berg abgerutscht, hatte das Bett des Saubachs aufgefüllt und schob sich ganz langsam und schubweise nach unten. Der Saubach mündet normalerweise in den Kirchbach, doch die Masse überfloss diesen einfach und drohte, sich in Richtung Brannenburg zu bewegen. In der Folge begann sich der gesamte Hang mit allem, was darauf wuchs, nach unten zu bewegen Das geschah langsam, derart langsam, dass viele Bäume aufrecht stehen blieben.

So verzweifelt wie Graf Pallvicini am Anfang geklungen hatte, so energisch stemmte er sich gegen das scheinbar Unvermeidliche. Denn eine winzige Chance gab es noch, die Zerstörung Brannenburgs aufzuhalten, und die lag in der Langsamkeit der Bewegung: Man musste versuchen, dem Gemisch aus Hang, Wasser und Schlamm, das den Kirchbach überschoben hatte, in dessen Richtung zu zwängen. Über drei Tage und Nächte hinweg arbeitete alles, was in Brannenburg laufen konnte, daran, zunächst das Wasser aus der Mure in den Kirchbach abzuleiten, Schlamm und Geröll würden dann von selbst folgen. Gleichzeitig begann man die fünf Anwesen des Dörfleins Gmain sowie eine Mühle mit Sägewerk zu evakuieren, denn eines war klar: die Rettung Brannenburgs würde mit der Zerstörung dieser Anwesen erkauft werden müssen.

Im Dezember schließlich war dann Zeit für eine erste Verschnaufspause: Die Arbeiten zur sicheren Entwässerung der Moose, die man unmittelbar nach dem Unglück begonnen hatte, waren schon im Lauf des November wegen der Schneefälle eingestellt worden, auch die Bemühungen, die ehemaligen Felder und Wiesen wenigstens von den mitgerissenen Bäumen und Felsbrocken sowie den Hausresten zu befreien, mussten jetzt unterbrochen werden. Im Frühjahr würde das eilens entwickelte ambitionierte Projekt der Königlich Bayerischen Bauinspektion in Angriff genommen, das die Verbauung und Erweiterung des gesamten Kirchbaches vorsah. Die Umsetzung dauerte dann doch wesentlich länger: rund 50 Jahre.

Ein Wunder

Während die Bewohner der bedrohten Häuser die Zeit nutzten, um ihre Habseligkeiten aus den Häusern und auf Fuhrwerken zu Verwandten zu bringen, während auch alles, was in der Mühle irgendwie abzubauen war, abgebaut und fortgeschafft wurde, weigerte sich einer, Alois Schrecker, hartnäckig, sein Haus zu verlassen: Er sei hier geboren, er werde auch hier sterben. Man soll ihn schließlich, wie Johanna Schwaiger erzählt, zu seinem eigenen Schutz verhaftet und einige Tage eingesperrt haben – als er aber wieder freigelassen wurde, war sein Haus das einzige der gefährdeten Anwesen, an dem der Schuttstrom haarscharf vorbeigegangen war.

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