Istanbul/Moskau/Brüssel – Nach dem Tod von mindestens 33 türkischen Soldaten bei einem syrischen Luftangriff in Nordsyrien wächst die Befürchtung eines Krieges des Nato-Mitglieds Türkei mit Syrien sowie dessen Schutzmacht Russland. Die EU forderte ein sofortiges Ende der Eskalation in Syrien. Es gebe das Risiko einer „größeren, offenen internationalen militärischen Konfrontation“, twitterte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Idlib ist das letzte große Rebellengebiet in dem Bürgerkriegsland. Die Situation dort war jüngst eskaliert. Die Türkei unterstützt in dem Konflikt islamistische Rebellen. Mit Russland als Schutzmacht der syrischen Regierung hatte sie ein Abkommen getroffen, um in Idlib eine Deeskalationszone einzurichten, und hatte dort Beobachtungsposten eingerichtet. Eigentlich gilt auch eine Waffenruhe. In den vergangenen Wochen war Syrien mit russischer Unterstützung weiter in dem Gebiet vorgerückt. Hunderttausende sind auf der Flucht. Die humanitäre Lage ist dramatisch.
Angesichts der Eskalation des Konflikts kam der Nordatlantikrat der Nato am Freitag zu einem Sondertreffen zusammen. „Die Alliierten verurteilen die fortgesetzten rücksichtslosen Luftangriffe des syrischen Regimes und Russlands auf die Provinz Idlib“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg danach. Er rief Syrien und Russland dazu auf, ihre Offensive zu beenden, internationales Recht zu achten und die Bemühungen der UN für eine friedliche Lösung zu unterstützen. „Diese gefährliche Situation muss deeskaliert werden.“
Angela Merkel (CDU) verurteilte die „rücksichtslosen“ Angriffe auf türkische Truppen im syrischen Idlib. In einem Telefonat mit Erdogan forderte die Kanzlerin am Freitag zudem „ein Ende der Offensivoperationen des syrischen Regimes und seiner Unterstützer“, wie ein Regierungssprecher mitteilte.
Moskau warf der Türkei am Freitag vor, ihre getöteten Soldaten seien zum Zeitpunkt des Angriffs mit der Al-Kaida-nahen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) unterwegs gewesen. Die Rebellen hätten eine große Offensive auf syrische Regierungstruppen versucht, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dabei seien auch die türkischen Soldaten unter Beschuss gekommen. Die Türkei wies das zurück.
Die Eskalation brachte anscheinend auch ein zuvor fraglich gewordenes Treffen Erdogans mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder auf die Tagesordnung. Nach einem Telefonat der beiden am Freitag teilte der Kreml mit, dass sie ein baldiges Treffen auf höchster Ebene vereinbart hätten.
Bewegung brachte die Eskalation auch in der Frage der syrischen Migranten und Flüchtlinge. Noch in der Nacht machten sich in der Türkei zahlreiche Migranten auf in Richtung EU-Grenzen. Nach dem Luftangriff waren über regierungsnahe Quellen Gerüchte aufgetaucht, wonach die Türkei Migranten nicht mehr zurückhalten werde. Im Fernsehen waren Migranten zu sehen, die an einem Strand standen, über Felder liefen oder an Grenzübergängen warteten.
Griechenland schloss seinen Grenzübergang zur Türkei bei Kastanies/Pazarkule, nachdem sich dort hunderte Migranten versammelt hatten. Als einige über die Grenze zu kommen versuchten, setzte die Polizei Pfefferspray und Tränengas ein, wie das Staatsfernsehen berichtete. Auch Bulgarien verstärkte die Grenzsicherung. Verteidigungsminister Krassimir Karakatschanow erklärte sich bereit, 1000 Soldaten an die türkische Grenze zu schicken, um Migranten ohne Papiere am Grenzübertritt zu hindern. An der EU-Außengrenze sei bereits Gendarmerie stationiert, sagte Regierungschef Boiko Borissow.
Beobachter sagten, die Türkei könnte die Gerüchte zu Migrationsbewegungen gestreut haben, um Europa zu mehr Hilfe in Idlib zu bewegen. Aus dem türkischen Außenministerium hieß es Freitagmittag zwar: „In der Flüchtlings- und Migrationspolitik unseres Landes, das die meisten Flüchtlinge in der Welt aufgenommen hat, gibt es keine Änderung.“ Ministeriumssprecher Hami Aksoy warnte darin aber auch, dass die Migrationsbewegungen Richtung Außengrenzen „im Falle einer Verschlechterung der Situation“ in Idlib zunehmen könnten.