Libyen: Droht die nächste Flüchtlingswelle?

von Redaktion

Italiens Geheimdienste schlagen Alarm: Kriegsherr Haftar steht vor den Toren von Tripolis. Die in Berlin geplante Friedenskonferenz zu Libyen droht zu platzen. Mit Erdogan mischt ein neuer Player im Konflikt mit. Der Wüstenstaat könnte zu einem zweiten Syrien werden.

VON INGO-MICHAEL FETH

Rom – Beim Brüsseler EU-Gipfel vor ein paar Tagen nahm Italiens Premier Giuseppe Conte seine Amtskollegin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beiseite, um sie persönlich über die drohende Eskalation ins Bild zu setzen: Die ohnehin angespannte Lage im Bürgerkriegsland Libyen spitzt sich gefährlich zu. General Chalifa Haftar, Chef der Gegenregierung in Bengasi, steht vor einem neuen Anlauf, die Hauptstadt Tripolis einzunehmen. Dort residiert, weitgehend isoliert und machtlos, die international anerkannte Übergangsregierung von Ministerpräsident Fayez Al-Sarraj. Seit einem Jahr ist die Metropole auf dem Landweg weitgehend eingekesselt; wirklich regiert wird in Tripolis nicht mehr.

„Ein hochgefährlicher Krieg ist hier im Aufzug“, warnt der sonst eher zurückhaltende UN-Sondergesandte Gassan Salamé. „Der Einfluss Europas schrumpft jeden Tag mehr, während andere Akteure wie Ägypten, die Emirate, die Türkei und Russland an Gewicht gewinnen.“ Von Stammesmilizen und Islamisten abgesehen. Frühere Rivalitäten zwischen einzelnen europäischen Ländern um Bodenschätze im Wüstenstaat seien von den „militärischen Fakten auf dem Boden überholt“, so der Vermittler. Das weiß man natürlich auch in Rom und Paris. Bereits im September hatten sich Macron und Conte daher auf ein künftiges gemeinsames Vorgehen geeinigt. Kurz darauf hatten bei einem Treffen in Rom Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und sein Amtskollege Sergio Mattarella eine neue UN-Friedenskonferenz in Berlin angekündigt. Ursprünglich im Oktober vorgesehen, wurde sie immer wieder verschoben. Nun steht Ende Januar im Raum.

Doch ob es dazu kommt, ist fraglich. Zu einer Rettungsmission im Auftrag der drei führenden EU-Staaten brach gestern der italienische Außenminister Luigi Di Maio auf. Bei Gesprächen in Tripolis und in der gegnerischen Hauptstadt Bengasi sollte er ausloten, ob die Kontrahenten doch noch an einen Tisch zu bringen seien.

Das dürfte vor allem an der Bereitschaft von General Haftar hängen, der sich mit seinem militärischen Zangengriff um Tripolis in einer komfortablen Lage befindet. Unterstützt von (nach Nato-Erkenntnissen) bis zu 2000 russischen Söldnern, Kampfhubschraubern und bunkerbrechenden Präzisions-Missiles, könnten Haftars Milizen die Hauptstadt in einer Blitzaktion einnehmen.

Die umzingelte Übergangsregierung hat nun überraschend ein Hilfsangebot von dritter Seite erhalten. Der türkische Präsident Erdogan bot Al-Sarraj die Entsendung von 5000 Soldaten und schwerem Gerät zur Verteidigung von Tripolis an. Italienische Diplomaten warnen: „Sollte das so kommen, wären wir Europäer vollends aus dem Spiel.“ Man müsse alles tun, um dem Konflikt wieder eine „mediterrane Dimension“ zu geben und „fremde Akteure zu isolieren“. Sollte das nicht gelingen, so ein internes Papier, wären die Konsequenzen unabsehbar: Europa würde sicherheitspolitisch die Kontrolle über seine gesamte Südflanke im Mittelmeerraum verlieren; von neuen Flüchtlingsströmen und ökonomischen Interessen ganz schweigen.

Ein altgedienter Diplomat fasst das Szenario so zusammen: „Wir stehen vor einem randvollen Pulverfass, an dem bereits die Lunte brennt. Wenn wir sie nicht schleunigst austreten, fliegt uns alles um die Ohren.“

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